Die Wirrnis, die Ordnung, die Zeit
Oder:
Sind wir nicht alle ein bisschen AFD?
I
Ich verstehe das alles nicht. „Wir reißen alle Windkraftwerke nieder! Nieder mit diesen Windmühlen der Schande!“, ruft mit einer emphatischen Geste, die ihr nicht so recht gelingen will, die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel auf einem AfD-Bundesparteitag in den Saal. „Was für ein Quatsch!“, denke ich und halte innerlich mit Gedanken dagegen, die ich für rational halte. Sehe vor mir Kräne, Facharbeiter:innen, die in schwindelnder Höhe demontieren, Bagger, die Fundamente aus der Erde brechen, LKW’s, die abtransportieren. Frage mich, wie die dann entstehende Lücke in der Energieproduktion gefüllt werden solle. Und spätestens dann weise ich dieser Aussage final zu: Absurd.
Und das gut geölte Gedankenaggregat schnurrt munter weiter. So dumm könne sie ja nicht sein. Sie müsse andere Gründe haben, so etwas zu sagen. Und sie müsse vor allem – für sie gute – Gründe haben, Worte in die Welt zu fauchen, die gar nicht die Bedeutung haben können, die sie vorgeben zu haben, sondern eine andere haben müssen. Jenseitig vom Thema. Ich versuche, zu verstehen, welche das sein könnten. Windräder sind in ihrer Welt und der Welt derer, die sie – anders als ich – „verstehen“, eine „Schande“. Ein niederträchtiges Vergehen an irgendetwas. Vielleicht an der Unversehrtheit der Natur? Etwas in mir protestiert. Das wäre doch „links-grün versifft“. Und wäre nach dieser Logik ein neues Kohlekraftwerk nicht eine noch größere Schande? Vielleicht aber geht es bei solchem Reden auch gar nicht darum, in die Zukunft zu denken. Sondern in die Vergangenheit. Der Konjunktiv 2 kommt ins Spiel. Hätten wir die Kernkraft nicht verteufelt, hätten wir die Energie-Probleme gar nicht. Wenn sie nun aber abgeschaltet sind? …
Und spätestens, wenn ich mir vorstelle, ich würde meine Einwände im Gespräch mit einer/m Anhänger:in der AFD vorbringen, merke ich:
So komme ich nicht weiter. Und dann muss mein Gedankenaggregat eine zweite Rationalitäts-Mechanik bewegen. Eine, die sich an dem abarbeitet, was jenseits des scheinbaren Sachthemas liegt. Was sind die dem Bild der Schande, dem Bild der „Windmühle“ zugrunde liegenden inneren Welten? „Don Quijote“ fällt mir ein. Aber das passt ja nicht. Don Quijote ist ein der Wirklichkeit entrückter, in der Welt der Ritterromane verlorener, verwirrter Harmloser auf einem klapprigen Gaul in einer verrosteten Rüstung, der am Ende verliert. Ein trauriger Antiheld. Immerhin ein Held. Schimmert da eine Erklärungsmöglichkeit? Die Anrufung einer Opferrolle als Behauptung – einmal um die Ecke – eines Siegertums? Und mir fällt ein, dass Björn Höcke die Betonquader, die in Berlin an die ermordeten Jüdinnen und Juden erinnern, als „Mahnmal der Schande“ bezeichnet hat. Verbunden mit der Forderung, die Erinnerung an die Taten, mit denen sich eine Nation schuldig gemacht habe, zu tilgen und zu ersetzen durch Erinnerung an all die Errungenschaften eben dieser Nation. Die berühmt gewordene „erinnerungspolitische Wende um 1800“. Das Gedankenmaschinchen stottert. Das Volk der Dichter und Denker beruft sich doch dauernd auf seine Leistungen. Wo führt denn dann diese Wende hin? Immerhin auch hier: Eine durch „Schande“ bedrohte verloren gegangene Identität. Ihre Rettung: Die Änderung der Vergangenheit. Wir wollen nicht weiter Opfer sein. Wollen aber weiterhin Opfer sein einer als falsch verstandenen jüngeren Vergangenheit?!
Vorläufig schalte ich die inzwischen zwei Gedankenmaschinchen ab. Sie drohen heiß zu laufen.
II
Ich begegne der Wirrnis mit Gedanken, die ich für rational halte. Aber wenn ich ehrlich bin: Nicht um der Rationalität selbst willen, – einer jenseits von mir bestehenden, übergeordneten Systematik, die die vermeintlich logische Voraussetzung für sinnvolles Handeln wäre. Ich tue es vielmehr zuallererst, weil Frau Weidel mit ihrer Äußerung Stützpfeiler meiner inneren Ordnung angreift. Diese Ordnung meldet sich meist erst, wenn sie bedroht ist. Und es ist gar nicht leicht, sie zu fassen zu bekommen. Es geht nur versuchsweise, weil ich geneigt bin, mich zu schnell hinter dem Schutzzaun „Rationalität“ zu verstecken. Da ist zum einen diese abfällige Häme, mit der Frau Weidel etwas charakterisiert, was andere geschaffen haben, weil sie es für sinnvoll hielten. Eine solche Häme empfinde ich als nur destruktiv. Mir selbst würde meine innere Ordnung das verbieten. Oder mich mit Schuldgefühl strafen, wenn ich mich doch zur Häme hinreißen lassen würde. Dann ist es die nassforsche Frechheit etwas anzukündigen, was durchzuführen sie selbst und die „Ihren“ selbst bei aufrichtigem Bemühen objektiv nicht in der Lage wären. Auch das empfinde ich auf schmerzhafte Art als destruktiv. Und weiter ist es die mit der Forderung zum Einreißen der Windräder verbundene Unterstellung, alle diejenigen, die einen gefährlichen Klimawandel konstatieren, also eine weit überwiegende Zahl von Wissenschaftler:innen, Naturbeobachter:innen, Politiker:innen und Journalist:innen wären dumm. Zu dumm zu erkennen, dass die Menschen nicht an den sie selbst bedrohenden Veränderungen schuld seien. Zu dumm zu erkennen, dass es sich bei den Phänomenen, die sie erforschen und zu erklären versuchen, um ganz normale Klimaschwankungen handele. Auch eine solche Hybris würde ich mir verbieten. An all dem merke ich: Dass ich Frau Weidel und Herrn Höcke nicht verstehe, liegt nicht in erster Linie daran, dass ihr Reden sachlich falsch ist, sondern daran, dass ich es nicht will. Denn sie bedrohen meine innere Ordnung. Meine Abwehr ist im Ursprung ein emotionaler Impuls, nicht ein rationaler. Und ich verteidige diese meine Ordnung gegen sie. Ich bringe meine Rationalität in Stellung und versuche damit den Angriff auf meine Integrität abzuwehren.
Diese mentale Mechanik – (schein-)rationales Argumentieren um des Schutzes der inneren Ordnung willen – ist das nicht gar etwas, was uns verbindet? Uns, – die unversöhnlichen Gegner rechts gegenüber links?
III
Dieses Gegenüber wird ins Unbeherrschbare hinein forciert durch das zunehmende Schwinden der Zeit. Wir haben für nichts Zeit. Wir werden dauerbespielt mit Nachrichten, „Wahrheiten“ – offenen und insgeheimen – , mit Bildern, mit Kommentaren. Unsere innere Ordnung wird unablässig und immer schneller bedroht. Zugleich aber gibt es auch in steigender Kurzzeitigkeit Angebote zu ihrem Schutz. Schnellst verfügbar und schnellst konsumierbar. Ich kann mein Innenleben im Sekundentakt einhegen und mich hinter Wahrheiten verschanzen, die so knackig sind wie flüchtig. Zugleich hat auch die Kommunikation keine Zeit. Sie wird in WhattsApp-gerechte schlagwort-listige Halbsätze, spontan abgespulte Sprachnachrichten, hipp gepostete Flash-News auf allen Kanälen in Synapsen-betäubender Frequenz mehr eilig hingeworfen als gepflegt. Aufmerksamkeitsspannen schwellen ab, kaum dass etwas nach dem Wahrnehmen weitergedacht ist. Die Informationsflut vertieft die schützenden Schützengräben in Sturmeseile. Diese Charakterisierung mag meinem hohen Alter geschuldet sein und dem damit einhergehenden Gefühl, nicht mehr mitzukommen. Aber wäre sie schon deshalb falsch? Und zugleich nutze auch ich das Tempo zum hochfrequenten Aufbau von Schutzwänden. Eine Gemeinsamkeit von „Ich“ und „Die Anderen“. Wir alle werden damit zu schieren Gegnern. Ohne Chance auf Zusammenkunft. Und tun vielleicht zugleich dasselbe.
Kommunikation als flirrende scheininformierte Selbstbestätigungs-Routine.
Wir brauchen dringend Begegnung. Wir brauchen Austausch. Wir brauchen Beschäftigung mit dem Innenleben unserer Schützengräben. Wir brauchen Zeit, Luft und Raum dafür mit einer erheblichen Portion Analogität. Und wenn wir begreifen, dass wir in mancherlei Hinsicht dasselbe Spiel im wahrsten Sinne des Wortes: treiben, hätten wir dann nicht einen Ansatz, einander wieder verständnissuchend begegnen zu können?
Oder wenigstens versuchen zu können, den Gründen auf die Spur zu kommen, warum wir einander nicht verstehen?