David
Die Häuser sind mit immer größeren Abständen von einander in die Landschaft gesprenkelt. Der Standrand nähert sich. Wir zweifeln, ob wir diesen Weg wirklich weitergehen möchten. Das hieße, so wie es jetzt aussieht: Wir müssten noch 4 Kilometer an einer zwar nicht viel, aber doch befahrenen kleinen Landstraße entlang gehen. Andererseits: Die Eremitage, die uns die charmante ältere Hotelbesitzerin empfohlen hat als Wanderziel, von dem aus wir als zusätzliche Belohnung auch noch einen wunderbaren Blick von weitem auf Ronda hätten, lockt uns schon sehr.
Und dann eines dieser unvermittelt ins Leben purzelnden kleinen Geschenke: Ein leise vor sich hin witterndes Holzschild, das sich zwischen den Zweigen eines hohen Strauchs am Wegesrand versteckt hält, weist uns nach rechts, weg von der Straße, auf einen schmalen kleinsteinigen Schotterweg. Mitten hinein in eine idyllische Welt, in der sich Olivenhaine, luftig bewaldete Pferdewiesen, und verwilderte Brachflächen aus Geröll, Gestrüpp und knorrigen Einzelbäumen aneinanderschmiegen. Ab und zu – schau mal, da unten – ein grau gesprenkelter Schimmel, der wie ein Fabelwesen auf eine rostige Badewanne zu trottet und den Kopf hineinneigt. Es ist schon ganz schön warm. Trotz Februar. Trotz Vormittag.
Aufatmen. Gleichmäßig fließende Schritte. Sachtes Plätschern von Reden und Schweigen.
An einer Wegbiegung schimmert der Rest eines sehr alten Turmes durch die Äste. Unscharf ist im wilden Gelände ein Weg durchs Unterholz erkennbar, der so aussieht, als würde er dorthin führen. Wir drücken uns durch ein paar Sträucher. Dann können wir ihm folgen.
Er führt tatsächlich zu dem Turm. An ihm vorbei ein erster freier Blick auf die kleine Stadt, in der wir vorhin aufgebrochen sind. Und neben dem Turm auf einen alten Sessel seventies style mit einem zerschlissenen Alcantarabezug, der die Ehrwürdigkeit der Szene – hier atmen wir Geschichte! – ein wenig hämisch durchkreuzt.
Ich schlüpfe durch den Bogen, in dem vor langer Zeit einmal eine Tür war. Eine schmale alte Treppe führt an der Mauer entlang nach oben. Ein Hauch von Abenteuer, als ich aufsteige, an die Mauer gedrückt. Als wäre der Abgrund neben der Treppe ohne das obligatorische Geländer höher.
Ich erreiche den ersten Stock. Rechts vor mir führt die nächste Treppe weiter aufwärts. Ich rufe nach unten der Liebsten zu: „Man kann hier weiter hoch“. Und drehe mich gleichzeitig zurück, um das kleine Zwischengeschoss zu mustern.
Und erschrecke. Da kauert ein Mann. Er liegt. Hat den Oberkörper halb aufgerichtet, den Unterleib seitlich gedreht. Er trägt eine schnittige Sonnenbrille und ein blütenweißes T-Shirt. Seltsam unpassend. Sein rechtes Bein lugt nackt unter einem leichten geblümten Tuch hervor, das er vielleicht als Decke benutzt hat und das jetzt durch die seitliche Drehung Blicke freigibt.
Seine ganze Haltung drückt Scham in den Raum. Sein Kopf quält sich von mir weg. Er presst die seitlich gedrehten Beine aneinander. Er hält mit der rechten Hand beinah krampfhaft das Tuch, als wollte ich es ihm wegnehmen. Sein Blick geht zur Mauer. Seine Anspannung hält mich aus. Sehnt mein Verschwinden herbei. Hält das Nicht-Weg-Können aus.
Ich brauche eine ganze Weile, bis ich die Szene nicht nur sehe, sondern wahrnehme. Für ihn muss es eine Ewigkeit gewesen sein. Doch endlich schaffe ich, mich zu regen und stammle „oh sorry“. Und noch einmal „oh sorry“. Vielleicht sogar noch einmal. Ich weiß es nicht mehr. Als müsste die Entschuldigung meinen Gliedern die Kraft einflößen, jetzt mich wieder abwenden zu können. Schließlich deutet er ein Abwinken an, mit einer kleinen Bewegung der Hand, die das Tuch hält und mit einer kleinen Kopfbewegung, ohne ihn aber mir zuzuwenden. Dann sagt er „ok, … ok“. Sein Lippen geben dabei einen kurzen Blick auf einzelne gelbe Zahnstümpfe frei, die sich auf seinen Unterkiefer verirrt haben.
Dann gehe ich.
Als wir uns von dem Turm entfernen, weiß ich nicht, was ich denken will. Ich möchte der Liebsten erzählen und schäme mich zugleich, aus dem Erlebten eine jener kleinen Abenteuer-Geschichten zu machen. Ein bisschen Ärger schwingt irgendwo im Hinterkopf. Warum bin ich eigentlich abgehauen? Ich hab doch dasselbe Recht, auf diesem übrig gebliebenen Relikt aus alter Zeit zu sein wie er. Warum bin ich nicht einfach weiter hochgeklettert?
Und dann muss ich über mich selbst innerlich verächtlich lachen. Recht und Besitz! Was für idiotische Denkgrößen angesichts dieser Szene.
Es ist gut, dass ich gegangen bin. Es hat nur zu lange gedauert. Ein, zwei Momente Scham hätte ich ihm ersparen können.
Und wieder eine ganze Weile später denke ich: Es ist gut, dass er mich erinnert hat. Daran, dass wir die Verlorenen, die Vergessenen, die Unwichtigen so gerne übergehen, wenn wir seufzend den Duft der Geschichte aufsaugen, an welchem übrig gebliebenen und zur Schau gestellten Gemäuer auch immer. Selten wurde ich so schmerzhaft erinnert, dass wir die Geschichte der Herrscher besichtigen.
Ich möchte dem Mann einen Namen geben. Ich phantasiere, dass mir das hilft, nicht zu vergessen.
Ich nenne ihn David.