11. September 2018
(Bucht bei Ogliastra)
Aeneis, 13. Buch, 1-69
Noch heute künden die Namen der Orte von den alten Geschichten:
Jupiter war’s in seiner unstillbaren Begierde
Näherte sich Licosa, der schönsten der Sirenen.
Als Kind der Lust gebar sie ihm die schöne
Ogliastra. Liebreizend, heimtückisch, anmutig, wild
Lebt‘ es im ganzen Wesen das Schicksal seiner Zeugung.
Jupiter wollte das Kind dem Einfluss der Mutter entzieh’n.
Doch ihr Weinen erweichte noch einmal sein göttliches Herz.
Er gewährte der Tochter entgegen der ersten Absicht
Die Nähe zur Mutter, aber entfernte sie zugleich
Von ihr, denn er erhob das wachsende Kind in den Stand
Der Götter, die über alles menschliche Sein sich erheben.
Diese jedoch erzürnten über diesen Frevel
Ihres Herrn und lehnten sich dagegen auf.
Diana, Neptun, Vulcan. Sie taten sich zusammen
Und trennten mit Sturm und Beben und anderen Gewalten
Den Wohnort der Ogliastra durch Klippen und Felsenschlunde
Vom Orte der Licosa, damit sie beide nur schwer
Noch zueinander kommen könnten. Und sie belegten
Den Wohnort der Ogliastra mit einem Bann, der besagte
Dass jeder, der diesen Ort würde jemals sehen oder
Besuchen, auf ewig verpflichtet wäre von ihm zu schweigen.
Ein Mensch, der hierhin käme, müsste sich dem Orakel
Von Palinura stellen. Nur, wenn dieses erklären
Würde, dass der Besucher für immer von diesem Orte
Schweigen würde, könne er leben. Wenn nicht, dann müsste
Ogliastra ihn eigenhändig töten, auf dass der Ort
Ein immerwährendes Geheimnis bleiben müsse
Bewohnt von der einsamsten Göttin, die je im Universum
Lebte. Dies Schicksal erlegten sie der Ogliastra
Auf als Rache an Jupiter, ihren Göttervater.
Ogliastra fügte sich willig dem Schicksal und wuchs heran
Zur einsamen Götterfrau, die, kaum gesehen
Von jedem auf ewig im Bann des Verschweigens gehalten wurde.
Licosa, die Mutter, zürnte ihrem sirenischen Wesen
Gemäß und maßlos gesteigert als gekränkte Mutter.
Einen Seefahrer nach dem anderen lockte sie mit
Vergiftetem Gesang ins Verderben. Keiner von ihnen
Überlebte. Alle starben in den Klippen
Oder sie mussten nach gescheitertem Orakel
Den einst bestimmten Weg des tödlichen Endes gehen.
Dies alles wusste Äneas nicht, der mutige Held.
Wohl aber wusste er von der tödlichen Macht der Sirenen.
Er widerstand mit eisernem Willen dem gift’gen Gesang.
Und fand ohne Schaden den Weg ins liebliche Gestade
Der Ogliastra. Sie sah ihn, sie nahm ihn auf und schickte
Wie es wohl ihre Bestimmung war, nach dem weisen Orakel.
Voll Sorge erwartete sie den Boten mit dem Urteil.
Sie hatte noch nie so sehr gehofft wie jetzt auf ein gutes.
Alles Hoffen vergebens! Auch diesmal hieß das Orakel:
Tod! Tod dem Manne, der wie noch keiner ihr Herz
Berührt und ihre Sinne belebt hatte. Sie hieß es Liebe.
Und sie wollte nur dieses eine Mal nicht folgen
Der göttlichen Fügung, dem bitteren Urteils-Spruch des Orakels.
In ihrer Verzweiflung rief sie Venus an, die Mutter
Von Äneas und auch eine Göttin, hoffend auf Milde
Und Verständnis für Liebe. Diese enttäuschte sie nicht.
Sie riet ihr ein zweites Orakel einzuholen, wie es
Bei schwerer Entscheidung schon vor ihr Männer und Frauen getan.
Nach der Priesterin Maratea solle sie schicken.
Diese sei unbestechlich und wahrhaft und voller Frieden.
Vielleicht könne deren Orakel das erste unheilvolle
Mäßigen und ein neues freundliches Urteil erwirken.
Sie aber, Ogliastra, müsse, um neuen Zorn
Der Götterbrüder zu verhindern ihren Äneas
In fester Gefangenschaft halten bis zu dem neuen Urteil.
Dies tat Ogliastra. Sie bannte Äneas auf ein Schiff
Vor der Küste. dies ließ sie von freundlichen Walen bewachen.
Jeden Abend besuchte sie ihn mit Speisen und mehr.
So harrten sie beide hoffend des neuerlichen Urteils.
(Vergil, Aeneis, 13. Buch, 1 – 69
Übersetzung: Mintar Khirgge. [Die Übersetzung ahmt den Hexamter nur insofern nach, als sie die 6-Hebigkeit einhält und mit der Mischung von Daktylen und Trochäen die im klassischen Hexameter gebräuchlichen Pausen nach bestimmten Halbversen nachahmt. Sie ergänzt den klassischen Hexamter um Auftakte und um weibliche Kadenzen. Die/der geneigte Leser*in mag selbst entscheiden, ob diese metrisch freiere Form dem Original-Werk angemessen ist. Sie/er möge dabei berücksichtigen, dass im modernen Deutsch der Rhythmus der Sprache nicht vornehmlich durch Längen und Kürzen entsteht, sondern durch Hebungen und Senkungen. Die „Eins-zu-Eins-Übertragung“ des Systems von Längen und Kürzen in das von Hebungen und Senkungen erscheint mir allzu leicht gestelzt. Deshalb habe ich diese metrisch eher freiere Übersetzung von Khirgge gewählt.])