Vielleicht
Assisi. Es ist noch vor 7 am Morgen.
Noch zeichnet die milde Morgensonne mit feinem Strich und zarten Farben Konturen in die Mauern. Noch ist die Stadt schön wie ein geliebter Mensch, der nach dem ersten Pinkeln sich den Weg zur Kaffemaschine ertastet. Vorbei an der Zeitung von gestern und der achtlos über den Stuhl geworfenen Jacke. Sie sind genauso nachtfaltig wie er.
Noch hat die Sonne die Menschen, die hier unterwegs sind, nicht in Form und Funktion gegleißt. Noch dauert es bis zur Fütterung im Sankt-Franziskus-Freigehege. Noch glitzert Morgentau am frischen Grün. Weiß-Rot-Grün.
Noch sprechen die Kellner:innen Italienisch. Noch verstehen wir sie kaum. Fühlen uns auf angenehme Weise scheu und fremd. Schnappen hier und da etwas auf. Verstehen vielleicht.
Noch gehört die Stadt denen, die hier leben, vielleicht arbeiten, vielleicht nicht, vielleicht gerade glücklich sind, vielleicht nicht.
Bevor wir unseren Streifzug beginnen, wollen wir in der einzigen Bar, die hier im Stadtzentrum schon aufhat, Kaffee und Cornetto nehmen. Ich gehe hinein, um die Sachen zu ordern und nach draußen mitzunehmen. Hinter der Theke eine junge Frau im schwarzen T-Shirt mit dem Logo der Bar. Sie trägt dazu passend – wie könnte es anders sein in Italien – eine schwarze Maske, – mit dem Logo der Bar. Vor der Theke zwei Männer. Einer jung. Einer mittelalt. Beide in der Arbeitskleidung der Müllwerker:innen, die gerade durch die noch schläfrige Stadt wuseln. Der junge Mann trägt eine Maske. Der ältere nicht. Letzterer palavert und rudert dabei mit den Armen. Die Zahl der Wörter und Sätze, die ich verstehe, ist spärlich. Aber aus den wenigen, die ich im Zusammenspiel mit Gesten verstehe (spitzer Finger piekst Oberarm), schließe ich: Es geht ums Impfen. Vielleicht will er sich nicht impfen lassen. Vielleicht sieht er gerade auch gar nicht ein, dass er eine Maske tragen soll. Der Blick des Jüngeren geht ins Leere. Vielleicht hat er keine Lust, sich das kreisende Gerede des Älteren anzuhören, will aber auch nicht intervenieren, um es sich nicht mit seinem Arbeitskollegen zu verderben. Die Frau hinter der Theke hat beide Handflächen entspannt auf der Theke abgelegt und steht leicht vorgebeugt. Vielleicht wartet sie auf eine kleine Vortragspause, um dann ihrerseits etwas zu sagen. Und tatsächlich. Plötzlich streckt sie sich und grätscht in den Vortrag des Älteren, Maskenlosen. Vielleicht sagt sie zu ihm: Du kannst meinetwegen über Maske und Impfen denken, was Du willst, aber hier in der Bar haben wir uns an eindeutige Regeln zu halten. Also entweder setzt Du jetzt deine „maledetta mascherina“ auf oder du gehst. Schwungvoll zeigt Ihr linker Arm, in welcher Richtung sich der Ausgang befindet. Ihre Augenbrauen sind leicht hochgezogen. Sie ist gespannt. Der Mann stöhnt, sackt ein bisschen in sich zusammen und fängt an, in den unendlichen Tiefen der linken Tasche seiner Arbeitshose zu puhlen. Vielleicht sucht er seine Maske. Ihre Augenbrauen jedenfalls entspannen sich. Und tatsächlich – es hat deutlich länger gedauert, als es eigentlich müsste – fingert der Ältere mit umständlichen Bewegungen und begleitet von Genöhle die beiden Gummis hinter die Ohren. Vielleicht denken die Bedienung und der Jüngere: Na also – geht doch. Sie wendet sich mir zu. Bald darauf balanciere ich ein Tablett hinaus.
Eine Frau schlendert auf uns zu. Betritt die Bar. Kommt kurz danach wieder heraus. Beim Gehen knispert sie die Verpackung einer Zigarettenschachtel ab. Sie wirkt nicht, als würde sie einfach nur spazieren gehen wollen. Schon gar nicht als Touristin. Eher wie eine städtische Angestellte. Aber eilig ist sie auch nicht. Sie schlendert gegenüber zu einer Bank. Sitzt vor einem dieser Gebäude, die irgendwo im Niemandsland zwischen Sehenswürdigkeit und Alltag ihr würdevolles Dasein fristen. Vielleicht macht sie das jeden Morgen so. Vielleicht geht sie gerne früher los. Auf dieser Bank den Weg zu Arbeit nochmal unterbrechen. Eine rauchen. Vielleicht die eine oder andere SMS. Vielleicht genießen, dass diese schöne Stadt jetzt gerade ihr gehört. Und dann weiter.
Der Weg weg von der zentralen Piazza menschenleer. Umso mehr fällt uns dieser alte Mann auf, der entgegenkommt. Der energische Schritt, die kerzengerade Haltung, – ein merkwürdiger Gegensatz zu seiner Aufmachung. Er trägt eine schlafschlabberige groß karierte Nachthose und ein ebensolches blaues T-Shirt. Auf dem Kopf ein hellbeiger schlappkrempiger Freizeithut, wie er in Kleingarten-Anlagen, auf Boule-Bahnen, in Schatten-Plauder-Gruppen und anderen Altherren-Habitaten weltweit verbreitet ist. An der rechten Hand baumelt eine schwarze Laptop-Tasche, so schlapp und leicht, dass man sieht: Sie ist leer. Um die rechte Schulter eine braune Herrentasche, die zu Lebzeiten wahrscheinlich Kreditkarten, Führerschein, Portemonnaie, Pfeifentabak und ähnliches beherbergte. Wertvolle Dinge also. Weshalb der alte Herr den Ellenbogen der Hand, die den Schulterriemen festhält, zum Schutz vor Dieben sehr fest auf die Tasche selbst gedrückt hat. Die kuschelt sich derart knautschig zwischen Arm und Körper, dass man sieht: Auch sie ist leer. Wir sind so irritiert von dieser Erscheinung, dass uns nichts Besseres einfällt, als eine Spur zu leutselig und laut zu grüßen. Er erwidert den Gruß, – aber mit einer Zögerlichkeit und einem granteligen Stimmklang, die deutlich machen: Eigentlich ist er kein Fußvolk-Grüßer. Er macht das jetzt nur, weil er Fremden gegenüber nicht schlecht erzogen wirken will, obwohl wir der Gruß-Erwiderung aber in Wahrheit nicht würdig sind. Als er an uns vorbei ist, drehen wir uns irritiert schweigend nach ihm um. Er läuft mitten auf dem Sträßchen. Noch immer zielstrebig und energisch. Auf eben diesem Sträßchen kommt ihm ein uraltes Golf-Cabrio entgegen. Er geht unwillig einen Schritt zur Seite und fordert mit unwirscher, heftiger Winkbewegung, der Wagen möge zügig weiter und an ihm vorbeifahren. Der aber bleibt stehen. Die Fahrerin strahlt erfreut. Vielleicht hat sie den alten Herrn gesucht. Sie beugt sich zur Beifahrerseite und schiebt mit einer gerade noch möglichen Körper-Streckung – dem alten Herrn entgegen – die Autotür auf. Sie sagt etwas. Ebenfalls strahlend. Vielleicht „Ah – Herr Buretti – so früh schon auf dem Weg ins Büro?! Soll ich sie mitnehmen? Ich komme sowieso da vorbei.“ Ihr gelingt, womit die Liebste und ich nicht gerechnet hätten. Der alte Mann steigt ein. Kurz darauf hockt er auf dem Beifahrersitz, hält seine Laptoptasche und die Schultertasche wie unbedingt zu behütende Schätze auf dem Schoß und blickt mit würdevoller Zuversicht der wichtigen Dinge entgegen, die er gleich zu arbeiten hat. Zur Fahrerin schaut er nicht. Vielleicht ist es selbstverständlich, dass er durch die Stadt gefahren wird. Vielleicht wundert er sich deshalb auch nicht, dass er ihren Namen nicht weiß. Man kennt so viele Leute…