Gândile und Sïnalù
So schön war ihre Welt. Es gab das Hell. Es kam von jenseits der Grenze, von der sie sich immer lieber fernhielten. Aus dem endlosen Raum darüber. Wie ein sanft wogender langsamer Ryhthmus schwoll es an und blieb und schwoll wieder ab. Verband sich mit dem Dunkel unten in ihrer Welt. Sie wogten mit in diesem Rhythmus.
Es gab das Warm weiter oben und das Kühl unter den großen Blättern, zwischen denen dicke Knollen aus dem Gewirr wuchsen, um schließlich jenseits der Grenze in freundlich leuchtendem Rosa das Jenseits der Grenze zu schmückten.
Es gab all die anderen. Kleine Schnecken, die unermüdlich langsam am Rand der Welt entlang krochen und kleine Sprenkel Grün vom Boden lutschten. Es gab diese merkwürdigen zweiflügligen Wimmelwesen. Sie schwammen mit dem blau schimmernden Rücken nach unten. Als wollten sie sich vor dem Hell schützen. Langbeinige zarte Wesen gab es, die oberhalb der Grenze mit kleinen Sprüngen auf ihr tanzten. Oft hatten Gândile und Sïnalù sich gefragt, wie sie sich dort oben auf der Grenze festhalten konnten. Es gab die großen vierfüßigen Schwimmwesen, die sich manchmal elegant senkrecht nach oben stießen, die Grenze berührten, ein Bläschen spuckten und genauso elegant wieder abtauchten.
Sie hatten Nahrung im Überfluss und sie hatten einander. Glücklich streiften sie nebeneinander durch ihre Welt und ließen ihre Körper fluten von dem Genuss zu leben. Nie sollte das enden. Und doch wussten sie, dass genau das bald geschehen sollte. Das Ende. Sie fürchteten es und spürten zugleich beinah sehnsüchtig eine machtvolle Lust, es selbst herbeizuführen. Nichts ängstigte sie mehr als das. Und doch strebten sie nach der Verlockung, die von ihm ausging.
Bei Gândile begann es zuerst. Es wurde ihr merkwürdig eng in ihrem Körper. Erste Zuckungen wanden sich gegen die innere Enge. Immer öfter suchte sie die Nähe der Stängel und Blätter , die aus ihrer Welt hinausragten. Mit jedem neuen Heraufziehen des Hell wurde es stärker. Immer zögerlicher folgte Sïnalù ihr genau dorthin. Würden sie sich trennen müssen? Tiefe Sorge erfüllte sie bei diesem Gedanken.
Schon so lange ging das so und doch war der Moment, als das Ende begann, überraschend. Gândile hielt sich schon an einem Stängel knapp unterhalb der Grenze. Sie würde das Klettern ins Jenseits nicht mehr aufhalten können. Sie versuchte es um seinetwillen, – – und kroch trotzdem weiter.
Sïnalù tat ihr gleich. Es würde ihn das Leben kosten. Nie wollte sie sich von ihm trennen. Und dann tat sie es doch.
Schon hatten ihre ersten Beine vorne am Kopf die Grenze überschritten. Schon begann die Furcht um Sïnalù, der ihr nachkroch, sich aufzulösen in dem unendlichen Drang weiter zu kriechen. Die Zuckungen wurden stärker und drohten mit ihrem unerbittlichen Aufbiegen ihres Körpers sie selbst zu zerreißen. Noch ein sehnsüchtiger Blick zurück zu Sïnalù. Dann gab sie nach. Sie wusste, sie hätte es sonst nicht mehr geschafft. Langsam widerstand sie den Zuckungen und kroch höher und höher. Das Hell gleißte in ihren Körper und trieb sie vorwärts. Oben am Rand des Blattes, an dem sie nun hing, hielt sie inne. Ihre Angst war genauso groß wie ihre Sehnsucht. Dann wieder ein Zucken. Eine kleine Furche in ihrem Nacken platzte auf. Ihr Kopf drängte sich aus ihrem Körper. Immer weiter wand sie sich aus ihrem Körper. War es überhaupt noch ihr Körper? Weiter! Stück für Stück. Die Füße an ihrem Kopf. Ihr Nacken. Ihr Hinterleib. Schon hing sie hilflos fast ganz aus dem, was einmal ihr Leib gewesen war, abwärts. Ängstlich floh ihr Blick durch diese neue Welt. Ihr Beine wogten im Leeren. Sie würde fallen. Wieder eine mächtige Eruption. Wie von selbst bog sich ihr Leib nach oben. Ihre Beine fanden Halt über der Hülle ihres alten Lebens.
Sie war nicht gestürzt! Ein Hauch von Erleichterung, die sofort wieder wich, als sie sah, dass ihr Sïnalù gefolgt war. Bis hierher. Er war doch noch nicht so weit! Es würde ihn töten! Auch er hing nun hier oben an dem Blatt und rührte sich nicht. Tiefer Schrecken. Lebte er noch? Bitte beweg dich!, schrie es in ihr. Nichts! Ihr Flehen verhallte im beißenden Hell. Schon riss ihr eigener Körper ihre Aufmerksamkeit wieder an sich. An ihrem Körper begannen sich mächtige Schwingen zu entfalten. Schmerzen wie von Tausenden kleiner Risse. Sie verbanden sich mit dem Schmerz um ihren Gefährten, der leblos neben ihr hing. Sollte diese neue Welt sie empfangen mit dem unerträglichen Leid, Sïnalù verloren zu haben?
Plötzlich ein Zucken neben ihr. Sie nahm alle Kraft zusammen und bewegte ihren Blick in seine Richtung. Wieder ein Zucken. Dann zwei drei vorsichtige Schritte weiter hoch. Ein banges Warten weiter sah sie, dass auch sein Kopf begann aus seinem Leib zu wachsen.
Ja. Sïnalù lebte. Eindeutig. Gândile atmete auf. Und erst da bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Atmen! Luft anhalten! Woher wusste sie, wie das ging?
Als das Abebben des inneren Bebens anzeigte, dass ihre Verwandlung fast abgeschlossen war, schauten sie sich voller Liebe an. Gleich würden sie die Schwingen kreisen lassen und ins Hell schweben. Und im selben Moment begann die Erinnerung an ihre schöne alte Welt zu schwinden.