Melancholie als Glück am See
Eigentlich mag ich die scheinmeditative Erzählung vom Innehalten, vom Zusichkommen in „dieser Zeit“ nicht. Zu sehr erscheint sie mir als ein allzu bemühter Versuch, um es mit Herbert Knebel zu sagen: Vor Ort imma dat Beste auße Situation rauszuziehen. Nur eben ohne die clowneske Selbstveräppelung.
Andererseits: Das heute hätten wir ohne die dringende Aufforderung zu Abstand und Kontaktbeschränkung nicht erlebt. Und das wäre sehr, sehr schade.
Die Tochter und ich wollen uns unbedingt mal wiedersehen. Indoor gemütlich bei einem Kaffee und einem Stück Torte geht nicht. Also Outdoor. Baldeneysee. Ungefähr die Mitte zwischen ihr und mir. Der See empfängt uns mit einer geradezu ikonisch melancholischen Inszenierung.
Tieftrüber Nachmittag mit Nebel und Nieselregen. Ein Tag, der es kaum geschafft hat, überhaupt Tag zu werden.
Als wir auf dem Parkplatz voreinander stehen, verzichten wir darauf, uns zu umarmen. Und tun es irgendwie in Gedanken doch.
Wir haben sogar ein bisschen was für’s Picknick dabei.
Dann traben wir los. Am See entlang. Müssen erst einmal immer wieder von Neuem staunen über diese uferlose Tristesse. Wirklich staunen. Im schönen Sinn des Wortes.
Dann reden wir beim Traben. Die Natur gibt uns das Thema vor. Traurigkeit. Wir reden über schwere Zeiten in unseren Leben und in dem anderer, die uns nahestehen. Darüber, wie diese Zeiten angeglitten kamen oder über uns hereinbrachen. Wie wir uns darin fühlten. Wie wir dachten, es könnte niemals noch trauriger sein und zugleich genauso niemals besser. Und wir erzählen einander, wie sich diese Zeiten dann immer wieder umformten. Wir fragen uns, was uns dann eigentlich doch die nicht für möglich gehaltene Kraft gab, langsam den Blick wieder zu öffnen. Und ob diese Kraft eigentlich die ganze Zeit da war, wir sie nur nicht sahen. Ob sie eine Frage des Entschlusses ist oder einfach Glück. Und ob und wie, wenn ja, Hilfe möglich war.
Es ist wundervoll. Als wären unsere ernsten Gedanken nicht aufgerufen im zarten Luftzug unter klarem Himmel möglichst rasch sich zu zerstäuben. Als wären sie im Gegenteil eingeladen zu bleiben. Wie von den zierlichen Nieselnebel-Tropfen gebunden uns zu umwehen, auf dass wir sie in Ruhe anschauen können. Die Melancholie als Glück erleben.
Wieder einmal bleiben wir länger stehen. Über uns ist wie aus dem Nichts ein großer Schwarm Dohlen aufgetaucht. Und schnattert und flattert ein paar Runden. Und ist auf einmal wieder verschwunden.
Unbemerkt von uns wird es spät.
Erst auf dem Rückweg, vielleicht angeschubst vom ersten offenen Blick auf die Laternen, die sich redlich bemühen, zu leuchten, ohne Nebel und Niesel zu sehr zu stören, fällt uns unser Picknick wieder ein.
Wir setzen uns auf eine nasse Bank. Kichernd angeln wir unsere Schätze aus dem Rucksack: eine Thermoskanne Rooibos-Tee, zwei liebevoll in Trockentücher gewickelte Tassen. Welche Farbe möchtest Du? Heute mal Sonnengelb. Das Töchterchen kredenzt – TaDaah!! – eine Tupperdose voller frisch gebackener Neujährchen. Der krönende Höhepunkt unserer Tafel. Der Tiefpunkt: Ein waschechter Flachmann. Mit Weinbrand. Von der Tanke. Für den Schuss. Und für einen kleinen Extrakick beim Aufwärmen. Mutprobe – kicher, kicher. Ein kleiner Schluck pur. Brrrr. Kicher,kicher. Ich weiß nicht, wie Diesel schmeckt, aber ich schätze so.
Eine verrückte Mischung: Urbanes Untergrundgesöff, feiner Berliner Bio-Café-Stuben-Frauen-Pläuschchen-Tee und Omas Knisper-Gebäck. Mit einem Dach aus Niesel und Nebel.
Erst als wir uns beide ein paar Mal schon die Kälte aus den Körpern geschüttelt haben, fällt uns auf, dass es Zeit ist zu gehen.
Auf dem Parkplatz verabschieden wir uns. So glücklich, dass wir uns umarmen – huch! In echt. Kicher, kicher …