Tag 60 bis Tag 63

Donnerstag: 9 Stunden
Freitag: 4 Stunden
Samstag: 6 Stunden
Sonntag: 6 Stunden
1 Stunde, 14 Minuten, 57 Sekunden die Rede, die ich in den letzten Tagen analysiert habe.
Die Liebste und ich bekommen am Mittwoch eine Mail mit einem Youtube-Link zu einer Rede. Diese Rede sei sehr hörenswert. Es ist eine dieser Betreff: Fw-Fw-Fw-Mails. Die sich leicht und flockig, mit ein paar knackigen Sätzen geschmückt, verschicken lassen. Und die dann richtig Arbeit bedeuten würden, wenn man sie ernst nähme. Weshalb ich sie zunehmend ignoriere.
Diese aber kann ich nicht ignorieren. Sie stammt von guten Bekannten.  Sie kündigt eine Kritik an, die sie als Linke teilen würden, – und das obwohl sie von einem Pfarrer komme. Selbst sie als Ungläubige müssten einräumen, dass dieser Geistliche sehr gut ausspreche, was auch sie umtreibe. Das kommt einem Ritterschlag gleich. Ähnlich der Ton der Fw-Fw-Vorgänger-Mails.
Ich höre mal rein. Und habe schon ganz am Anfang das Gefühl, dass diese Rede nur mit äußerster Vorsicht zu hören ist. Die ersten genaueren Blicke zeigen: Diese Rede ist demagogischer Unsinn.
Empfohlen von Linken. Also Gesinnungsgenoss*innen für mich.
Also kann ich sie nicht ignorieren.
Ich kann aber auch nicht einfach dagegen koffern. Vor mir selbst.
Also steige ich tief hinab in die modrigen Gewölbe der in dieser Rede versprachlichten Gedanken. Minute um Minute. 26 handgeschriebene Seiten Exzerpt. Höre viele Stellen mehrmals , um sie wirklich genau zu rezipieren.
Das Ergebnis: Ein Analyse-Text von 11 Seiten.
Diese 11 Seiten kann man unmöglich hier als Blog-Beitrag veröffentlichen. Man würde endlos scrollen. Ich möchte sie dennoch veröffentlichen und empfehlen. Ich möchte sogar empfehlen, sie zu teilen und anderen zu empfehlen. Man kann sie verstehen, auch wenn man (was ich hoffe …) den Video-Clip nicht kennt. Und man lernt viel darüber, wie in Texten von Menschen, die man heutzutage gern „Verschwörungstheoretiker“ nennt, manipuliert wird.

Die Analyse findet sich hier:

Heil-Land

Neben dem „Funktionieren“ solcher Demagogie-Texte treibt mich – fast noch mehr – die Frage um, wie es sein kann, dass Linke und Rechte, Ärzte, Homöopathen, Spinner, Esoteriker, Wissenschaftler und so viele andere mit unterschiedlichen, teils einander diametral entgegenstehenden Grundhaltungen plötzlich diese seltsame Allianz der „Hygiene-Demonstranten“ bilden.
Deshalb hier wenigstens das Ende der Analyse:

[…] Zurück zum Anfang. Warum der Begriff „Heil“? Er steckt in „heilsam“, „Unheil“,  „Heiler“, „Heilslehre“, Heilung. Er ist konnotiert mit „tief in seiner Mitte Sein“, „gesund sein“, „körperlich-seelisch-geistig ausgewogen sein“, „Krankheit ausgleichend“, „innere Stärke“ u.ä.
Meine persönlichen Recherchen im Zusammenhang mit zur Zeit im Netz z.T. erstaunlich vielfach geteilten Inhalten im Zusammenhang mit einer Kritik an den durch die Bundesregierung in Deutschland verfügten ‚Schutzmaßnahmen‘ im Zusammenhang mit einer tatsächlichen oder vielleicht auch nur angenommenen pandemischen Gefahr durch das Corona-Virus haben mich schier verzweifeln lassen, weil übliche Sortierungsmechanismen aus meinen persönlichen Werten heraus nicht mehr funktionierten. So verbreiten z.B. Internet-Portale, denen ich bisher praktisch a priori Seriosität zugesprochen habe, plötzlich Texte, deren Lektüre tatsächlich eine globale Anti-Menschenrechts-Verschwörung nahelegt und damit mein Grundvertrauen in Demokratie und Menschenrechte in den Grundfesten erschüttern. Linke teilen Inhalte, die besonders gerne von Rechten goutiert werden. Definitiv unwahre Behauptungen mutieren zu bedrohlichen Kernthemen, mit denen auch ich mich einfach beschäftigen muss. So kursierte eine Zeitlang die „Information“, im Kabinettsbeschluss vom 30.04.2020 sei schon eine Impfpflicht festgelegt, die zwei Wochen später im Bundestag einfach durchgewinkt würde, eine Information, die auch mich erheblich aufgeschreckt hat, die sich aber, als ich das Original des Kabinettsbeschlusses las, als schlicht falsch herausstellte. Die sich einstellende Beruhigung konkurriert aber mit der Tatsache, dass natürlich auch mir nicht entgangen ist, dass die vorherrschende Logik der Entscheider*innen in Deutschland und der Welt kaum anders auflösbar wäre als mit einer flächendeckenden Impfung der Bevölkerung, die sicher bei der/dem einen oder anderen Politiker*in zu der Forderung einer Impfplicht führen könnte.. Nur eben: In diesem Dokument steht das nicht. Warum geht es dann trotzdem viral? Und nicht nur bei der dumpfen Variante von Pegida-Grölern. Sondern auch bei Menschen, die ich als bedächtig, klug, aufmerksam und sprachbewusst bezeichnen würde? Was verbindet den Esoteriker mit der Straßenkämpferin aus dem schwarzen Block, die rechtsnationale Fahnenschwingerin mit dem menschenfreundlichen Homöopathen?
Mir ist kein anderer Denkweg eingefallen als der der Suche nach Heilung, nach Heil.
Die Texte, die ich gelesen, gehört und gesehen habe (ich bezeichne auch Video-Clips als Texte), bieten Heil an. Sie versprechen z.B. heilende Erkenntnis. Die Heilung besteht in einer schnell gewinnbaren Einsicht, die nicht stundenlanges, vielleicht schmerzhaft Widersprüchliches zu Tage förderndes Recherchieren voraussetzt, sondern nur ein paar Klicks. Die Blase, in der man dann herumklickt, ist inzwischen so groß, dass man beim Weiterverfolgen der angebotenen Links sogar das Gefühl haben kann, man würde recherchieren. (Ich höre in Straßeninterviews ganz oft von Hygiene-Demonstrant*Innen, man müsse einfach mal auch abseits der Mainstream-Medien recherchieren.) Dass ich persönlich z.B. lieber gleich auf sogenannten seriösen Portalen schaue, als offen zu recherchieren, hat ja keinen anderen Grund. Ich will Heilung von Unsicherheit durch passende Medikamente, sprich: passende Informationen. Am besten aber in homöopathischen Dosen, damit nicht die Gefahr erneut auftretender Widersprüche entsteht, nicht die Gefahr endlos aufploppender neuer Fragen und schon gar nicht die Gefahr von Widersprüchen, die eigene Selbstverständlichkeiten ernsthaft in Frage stellen könnten.
Wenn wir Welt wahrnehmen, stolpern wir zwangsläufig über Widersprüche. Das würden wir, wenn wir ernsthaft uns selbst wahrnehmen würden, auch tun. Letzteres können wir leicht vermeiden. Ersteres oft auch, solange nicht, wie jetzt, die Welt so viel Krach macht, dass ich es nicht mehr ignorieren kann. Und das tut sie ja, wenn ich einen Laden nicht betreten darf, weil ich meinen Mundschutz vergessen habe. Die Widersprüche, die mich anspringen, sind schwer auszuhalten. Da ist es heilend, wenn ich einfach davon ausgehen kann, sie beruhten auf Betrug. Ich wäre zwar Opfer, aber ich wüsste es und könnte mich ergeben oder kämpfen oder fliehen, je nachdem, was mir mehr Heil verspricht. Es ist heilend, wenn das ganz viele so sehen, ich also nicht allein in diesem Dschungel aus Widersprüchen leben muss.
Ein Beispiel: Ich fürchte, man muss davon ausgehen, dass in den Laboren dieser Welt nicht nur Konstruktives erforscht wird, sondern z.B. auch an biologischen Waffen. Ich befürchte weiter, dass der größere Teil der Menschheit ebenfalls davon ausgeht. Und selbst in einem Labor, in dem nicht an biologischen Waffen geforscht wird, sondern vielleicht mit experimentellen Viruskonstruktionen an einem Impfstoff gegen Aids, können Dinge passieren, die für die Gesundheit der Menschen auf der ganzen Welt bedrohlich sind. Es wäre ja komisch, wenn so etwas nicht passierte. Und dann ist so ein Virus plötzlich in der Welt und bedroht mich ganz persönlich und kegelt meine Lebens-Routinen brutal durcheinander. Dann ist es zwar nicht problemlösend, aber heilend, wenn ich sagen kann, dieses Virus ist eine perverse Labor-Konstruktion. Es soll zur Unterdrückung der Menschheit eingesetzt werden. Der Gedanke ist nicht angenehm, aber er heilt im Moment meine Unsicherheit. Weiterleben mit der Unsicherheit nicht zu wissen, wo das Virus herkommt und es vielleicht auch nie zu erfahren, vielleicht auch nie zu erfahren, ob die Maßnahmen, die jetzt mein Leben durcheinander würfeln, überhaupt sinnvoll waren, – all das wäre realistisch, aber dauerhaft schmerzend, also nicht „heil“. Die Annahme, es gäbe finstere Mächte, die mich und meine Mitmenschen weltweit terrorisieren wollen, ist faktisch alles andere als angenehm, aber sie heilt für den Moment und vielleicht für den längeren Moment meiner vielleicht kompletten Lebenszeit meine Widerspruchsschmerzen. Und dann glaube ich eben entschlossen den beiden Wissenschaftlern, die behaupten, das Virus sei menschgemacht und das sogar für einen Laien schlüssig ableiten können. Und versuche die auszublenden, die Widerspruch anmelden, – vielleicht genauso schlüssig. Notfalls deklariere ich sie als gleichgeschaltete Falschmeldungen-Verbreiter, wenn sie mir gar nicht von der Seite weichen wollen.
Dazu kommt: Es gibt in all diesen Wirren Menschen, die Bescheid wissen. Jedenfalls können sie offenbar überzeugend so tun. Auch das heilt. Ich muss nicht unter Schmerzen weiter davon ausgehen, dass Wahrheit immer nur ein Versuch ist. Und dass der Versuchsaufbau jederzeit einstürzen kann. Ich kann die Wahrheit erfahren. Ich muss nur den richtigen Klick machen.
Bei den Autorinnen und Autoren der „Heils“-Botschaften ist die Sache, denke ich, zum Teil ähnlich und z.T. anders. Vermutlich gibt es unter den Autor*innen Menschen, die wider besseres Wissen betrügen und mit Bedacht Falschinformationen betreiben. Deren Motive kenne ich nicht und kann sie mir auch nicht ausmalen. Die aber, die verfälschende oder, gemessen am Faktischen, unzulässig vereinfachende oder unangemessen pointierende Botschaften verbreiten, in der aufrichtigen Absicht, Gutes zu tun, – welchen Heilungs-Mechanismen dienen die?
Meine These ist: Sie sind die Avantgarde des Heilens. Sie sind verliebt in die Vorreiter-Rolle beim Heilen der anderen und heilen im Ausleben dieser Verliebtheit sich selbst.
Meine Gedanken mögen sich so lesen, als stünde ich über diesen Dingen. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann diese Sehnsucht nach Heilung geradezu körperlich spüren.
Aber ich kann ihr auch misstrauen. Das unterscheidet mich dann vielleicht doch von vielen, die heillos folgen, – notfalls dem Unheil. Hoffe ich.