Lichtallergie

(gekürzte Fassung, hier geht es zur längeren Fassung)

Helmut Kohl ist gestorben. Wahrscheinlich bleibt einem Politiker wie jedem anderen Menschen, dessen Leben zu einem großen Teil der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, gar nichts anderes übrig, als sich selbst zur Hauptfigur einer Legende zu machen. Und wahrscheinlich bekommt jeder dieser Menschen auf diesem Weg schnell mediale Vorschläge zu einem klaren Plot, auf dass sich die Legende in wenigen Kernbegriffen verdichtet erzählen lasse. Kanzler der Einheit, – ach ja.
Helmut Kohls Legende muss nun nachjustiert werden. Es steht die Kreation des Schlusskapitels an.
Die dazu notwendigen Kernbegriffe außer „Kanzler der Einheit“ sind schnell definiert. CDU-Grande, stur, charmant, verlässlich, Europäer.
Ein bisschen mehr elegante Eloquenz verlangt das delikate Thema Hannelore und Familie. Man kann ja schlecht sagen, was jeder weiß, und nicht weiß und irgendwie doch weiß: Dass Helmut Kohl sein Leben mit einer anderen Frau geteilt hat als Hannelore. Dass er seine Frau und seine Familie zu Statisten der Legende „treusorgender Familienvater“ degradiert hat. Dass er seine Frau in dem für diese Legende zur Schau gestellten Eigenoggersheim hat vereinsamen, verzweifeln und schließlich sterben lassen.
Legende Kohl. Kapitel Hannelore. Auch diese Herausforderung meistern die Schwadroniermaschinen der Nachruf-Massenproduktion. Kernbegriff: Lichtallergie. Kernbotschaft: Ein Kanzler hat sehr viel und sehr Wichtiges zu tun. Er kann sich nicht auch noch um seine Söhne kümmern. Das hat sie dann aufopferungsvoll getan. Und zusätzlich noch um ihre Stiftung. Sie war nämlich weit mehr als nur die Frau an seiner Seite. Aber dann kam leider diese Lichtallergie.
In diese gut geölte Legendenproduktonsmechanik stolpert hinein: Der Sohn. Er steht mit seinen beiden Kindern vor dem Elternhaus und wird von der, die jetzt hier das Sagen hat, Kohls zweiter Frau, nicht hineingelassen, bekommt sogar Hausverbot, wird von der Polizei sanft weggeführt. Noch am Abend höre ich in journalistischen Kommentaren, dies sei „entwürdigend“ gewesen. Man fragt sich, warum der Sohn sich das angetan habe. Und man ist auch ein bisschen empört, warum der Sohn dieses Schauspiel, diese kleine hässliche Macke dem noch frischen Zierputz am Anbau zur Legende Helmut Kohl zugefügt hat
Dem Sohn wird allen Ernstes entwürdigendes Tun vorgehalten. Für mich war sein Verhalten ein verzweifelter Versuch, gerade eben die zu behalten: Die Würde. Er ist mit einem 50er-Jahre-CDU-Vorzeigefamilien-Papa-mit-Pfeife-an-der-von-der-geliebten-Frau-gespielten-Hammondorgel-Stigma gezeichnet, das ihm bis hinein in seinen Körperbau wahrscheinlich ein Leben lang genau das versucht hat zu nehmen: Die Würde.
Innerlich gratuliere ich ihm. Aber ich bin natürlich parteiisch. Und insofern ungerecht. Für mich ist Kohl der Inbegriff des dumpfen, verlogenen, bigotten Moral-Bürgers, dem ich als junger Mensch kalt, nein – schlimmer – lauwarm leidend ausgeliefert war. Für mich ist er der Vater der „geistig-moralischen Wende“, die nichts anderes bedeutete, als dass alles, was ich mir als wichtig erkämpft hatte, von einem Tag auf den anderen auf den Müll kam. Vorher war ich mal Strauß-bedingt „Ratte“ und „Schmeißfliege“ gewesen. Aber das war ja schon fast eine Ehre, von einem korrupten autoritären polternden rechtsbayerischen Polit-Berserker so genannt zu werden. Jetzt aber versanken meine Ideale im klebrigen Sumpf einer reanimierten Mehlschwitzen-Gesellschaft, die sich anschickte, einladenden Errungenschaften wie Toleranz, soziale Verantwortung, Liberalität, Weltoffenheit und ähnlichem  Sozenschnickschnack den Garaus zu machen. Und: Entschuldigung! Auch „Kanzler der Einheit“ war er für mich nicht. Die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge in Prag, die Öffnung der Grenze von Ungarn nach Österreich, das kopflose Stolpern des DDR-Regimes, die friedliche Klarheit eines Gorbatschows, die verhinderte, dass die DDR-Führung mit Waffen gegen die Montagsdemonstranten vorging. Bei all dem war er für mich nur ein Zaungast, der immer zu dick und zu laut seinen Saumagen-Senf dazugegeben hat, damit er dereinst „Kanzler der Einheit“ genannt werden können möge.
Ja, – ich weiß, all das ist ungerecht und pietätlos. Aber es ist auf den Legenden getünchten Wänden ja auch nur ein Fliegenschiss.
So wie das Verhalten des Sohnes. Und einer, der noch viel kleiner ist als der des Sohnes.
Ihm gebührt mein Respekt. Und mein Mitgefühl. Denn irgendwo in sich wird er trauern. Schließlich ist sein Vater gestorben, und der seines Bruders und der Großvater seiner Kinder.