Tag 79
Ich bin ein trotzkopfdummer Trottel. Trostbedürftig.
Vor drei Wochen habe ich eine Mail aus „vertrauenswürdiger Quelle“ mit der Empfehlung eines Videos bekommen. Als ich es ansehe, stelle ich mit Entsetzen fest, dass es eine Anti-Corona-Maßnahmen-Predigt von einem fundamentalistischen freikirchlichen Pfarrer ist. Seine schwer erträgliche Rhetorik hat beinahe goebbels’sches Ausmaß.
In einem Anfall von Leidensbereitschaft, „Nein, das kann ich so nicht stehen lassen“ und wildem Vorsatz, dem etwas Gehaltvolles entgegenzusetzen, schreibe ich eine Analyse (Heil-Land) der Rede. Ich schicke sie den Absender*innen eben jener Fw-Fw-Weiterleitungsmail, die die Empfehlung der Predigt enthielt.
Zwei Wochen lang schaue ich danach jeden Tag gebannt ins E-Mail-Postfach in der Hoffnung, Antwort zu bekommen. Eigentlich sogar in der Gewissheit. Ich war sicher, dass die Absender*innen sich dazu verpflichtet fühlen.
Die Gewissheit war unangebracht. Außer wachsweichen Ausreden („versehentlich zu mir geschickt…“ und Ähnliches) nichts. Jedenfalls nichts Substanzielles. 20 Stunden intensive Arbeit zerbröseln im weißen Rauschen der Web-Aufregung.
Ich hake nach. Einer immerhin schreibt, es tue ihm leid, dass ich mir soviel Arbeit wegen seiner Empfehlung gemacht habe.
Keiner schreibt, womit ich fest gerechnet habe: Dass man entsetzt und beschämt sei, die Rede nicht sorgfältig genug gehört und gesehen zu haben, bevor man sie anderen empfehle. Dass man sich ärgere, solch einem üblen demagogischen Unsinn zur Weiterverbreitung verholfen zu haben. Oder Ähnliches.
Ich leide. Und spüre einen ungesunden Drang, diese Empfehlungs-Weiterleiter*innen mit spießiger Besser-Wisser-Penetranz weiter zu nerven, bis sie endlich zugeben, was für einen Unsinn sie da verzapft haben.
Damit wenigstens irgendwas passiert, suche ich, unter welchen youtube-Adressen diese unsägliche Predigt überall veröffentlicht ist. Es sind 11. Ganz im Stile eines bockigen Alten hinterlasse ich, dem Rat einer Freundin folgend, überall einen Kommentar mit einem Link zu meiner Analyse.
Herzklopfen dabei. Echtes Herzklopfen. Ob es jetzt einen Shitstorm gegen mich gibt? Ob ich das überhaupt dann aushalte? Zwischendurch zögere ich. Dann tue ich es doch.
Und dann passiert – … – nichts. Nicht einmal ein Shitstürmchen. Nur ein kleiner Kommentar zu meinem Kommentar an einer Stelle: „Wow, da haben sie sich ja richtig Arbeit gemacht.“ Ich möchte glauben, dass das hämisch ironisch gemeint ist. Ist es aber nicht. Ich werde als Gesinnungsgenosse auf zwei weitere „Wissenschaftler“ hingewiesen, die denselben Unsinn verbreiten wie dieser Pfarrer in der besagten Predigt.
Inhaltlich gibt es genau drei Reaktionen auf meine Analyse: Von der Liebsten, von meinem Sohn und von einer guten Freundin.
Das war’s.
Und ich wusste, dass es so kommen würde. Ich habe es bei der Arbeit immer wieder gespürt. „Martin, das ist trotzkopfdummer Unsinn, was Du hier machst!“ So flüsterte es aus irgendeiner stillen Ecke irgendwo in meinem Herzen. Aber zu leise, als dass ich es nicht hätte mit trotzkopfdummer Betriebsamkeit übertönen können.
Ich wusste, dass diese Analyse kaum jemand lesen wird. Erst recht wusste ich, dass diejenigen, denen ich den Link zu dieser Predigt verdanke, sich nicht die Blöße geben würden, ihren Irr-Sinn einzugestehen. Ich wusste, dass „im Netz“ meine Analyse keine Resonanz finden würde. Ich wusste das alles auch deshalb, weil auch ich nur sporadisch auf Web-Hinweise aktiv reagiere.
Und habe mir die Arbeit trotzdem gemacht. Trotzkopfdummer Trottel verstößt gegen alle Regeln des Netz-Betriebes:
- Viel zu lang.
- Viel zu sorgfältig.
- Viel zu angewiesen auf ruhige Lektüre.
- Ohne Bilder.
- Keine schnelle Belieferung mit vorher schon vorhandenen Emotionen, die ohne weitere Denk-Belästigung vor allem schnell befeuert werden wollen.
- Keine Beteiligung an irgendeiner schon existierenden „Community“.
- Und vor allem: Viel zu langsam. Viel zu spät.
Der Rausch um diese Predigt herum ist schon 3 Wochen alt. Hallo?!? Drei Wochen!! Das ist ungefähr so lange wie die Zeit nach dem Aussterben der Dinosaurier.
Vielleicht bin ich auch einfach schon zu alt für das Klicke-di-klick-Geklimper. Vielleicht sind meine Vorstellungen von Lesen und Wahrnehmen und Denken und nochmal Lesen und mit anderen Reden und nochmal woanders Gucken einfach hoffnungslos antiquiert.
Aber umgekehrt. Positiv betrachtet. Ich sollte mir nicht einbilden, ich könnte Internet einfach so. Ich muss noch viel lernen. Oder: ich möchte noch viel lernen. Ob ich dann wirklich nach den Regeln spielen kann und will, kann ich dann ja sehen...