Tag 54
Schlange
Zehn Uhr Acht. Perfekt. Zehn Uhr Zehn ist der Termin. Während ich das Fahrrad an der Arztpraxis abstelle, sehe ich draußen schon die Schlange. Sieht lang aus. Sind aber nur 5 Menschen. Es wird immer nur eine Person reingelassen, wenn eine andere die Praxis verlässt.
Ein Mann kommt kurz nach mir angeradelt, stellt auch sein Fahrrad ab. Er kriegt das Gefummel mit dem Schloss schneller hin und kann sich vor mir in die Schlange reihen. Als ich endlich auch soweit bin, schaut er mich an und winkt mich vor. „Sie waren doch vor mir da.“ Wahrscheinlich lächelt er, aber sehen kann ich es nicht. Mundschutz.
Hier und da ein paar launige Wortwechsel. Woll`n Sie auch `n Fisherman’s? Garantiert noch nicht infiziert. Nein Danke, ich bin zu schwach. Hä? Ja, kenn`se nich? Die Werbung? Sind sie zu stark, … Ach so ja, klar.
So in der Art.
Kurz darauf strebt eine flotte, schicke, junge Frau eilig auf die Eingangstür zu. Sie rüttelt daran. Aufklärung aus der Schlange: Sie müssen erst schellen. Die Person schellt. Sie reckt ungeduldig den Kopf hin und her. Versucht, drinnen jemand auf sich aufmerksam zu machen.
Wieder wird sie aufgeklärt. Sie müssen auf das Surren in der Tür achten. Dann können sie sie aufdrücken.
Ich bin innerlich schon auf dem Sprung, da tut es ein anderer: Aber, sagen Sie, Sie sind ja eigentlich noch nicht dran. Sie müssen sich hinten anstellen. Wir warten alle.
Ja, aber, … sie habe gerade angerufen, um nur ein Rezept abzuholen. Da sei ihr gesagt worden, sie solle um 10 da sein. Sie sei jetzt eh schon zu spät.
Ohne weitere Kommentare wie auf geheime Absprache spulen wir alle, die wir in der Schlange stehen, unsere Zeiten runter. 10:10, 10:15, 10:20 usw. Gefällt mir, die Szene.
Sie lässt sich nicht beirren. Sie habe ja keinen Arzttermin. Sie habe nur einen Termin zum Rezept Abholen.
Inzwischen hat es an der Tür gesurrt, sie aber verpasst, zu drücken.
Ja, nu drücken se, brummelt es aus der Reihe.
Die Frau drückt.
Ja, erst schellen, natürlich.
Das geht noch ein wenig hin und her. Mit der einen oder anderen kleinen Spitze aus der Schlange. Aber nicht besonders giftig. Eher ketzerisch.
Schließlich geht die junge Frau als erste von uns allen rein. Sie hat es geschafft.
Ich schwanke zwischen wohliger Freude, Ärgern und Beneiden. Mit freundlicher, aber unnachgiebig bestimmter, lässiger Dreistigkeit seine eigenen Interessen verfolgen und durchsetzen. So selbstverständlich, dass es nicht mal zum Kampf kommt. Das würde ich mich niemals trauen. Davon hätte ich gerne mehr.
Die Freude? Sie genießt, dass alle hier in der Reihe sehr entspannt sind. So entspannt, dass es nicht einmal lohnt, sich aufzuregen.
Die junge Frau kommt wirklich sehr schnell wieder raus.
Und spurtet an uns vorbei zu ihrem Auto. Es soll so aussehen, als ob sie es enorm eilig hätte. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass ihr der Weg vorbei an „unserer“ Schlange sehr, sehr unangenehm ist. Das find ich gut. Sie schämt sich wenigstens ein bisschen. Das ist doch mal ein Anfang.