Jauchzet, frohlocket!
Das wirkliche Leben ist oft genug zu groß für mein kleines Hirn.
Wir verbringen ein Wochenende in Leipzig. Bei einem Besuch in der Nicolai-Kirche schauen wir uns die Ausstellung an, die dort aufgebaut ist.
„Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Welt besitzen“, – mit diesem leicht abgewandelten Psalm erinnern die Ausstellungsmacher an die Friedensgebete in der Nicolai-Kirche, die ein wichtiger Ausgangspunkt für die Montagsdemonstrationen und schließlich den Mauerfall waren. Ehrfürchtig schauen wir uns die Dokumente an und fragen uns manchmal ein wenig traurig, wie viele von denen, die damals für die Freiheit auf die Straße gegangen sind, wohl heutzutage am Montag mit vergleichbarer Hingabe auf eine Demonstration von Pegida gehen.
Kaum haben wir die Kirche verlassen, sehen wir die ersten Stände des Weihnachtsmarktes und kurz davor Betonkübel, die den Markt vor einem LKW-Anschlag schützen sollen. Auf fast allen steht gesprüht „Danke Merkel“ und „Multikulti läuft“.
Der verqueren Logik von „Danke Merkel“ kann ich noch folgen. Sie sagt ja wohl: „Wir schaffen das“ hat unendlich viele Terroristen aufgefordert in unser Land zu kommen und der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, auf unseren schönen Heimat-Brauch, ist das traurige Ergebnis davon.
Aber die Logik von „Multikulti läuft“ will sich mir einfach nicht erschließen. Ich kaue auf irgendwas wie ‚Multikulti-Idioten lassen Flüchtlinge, sprich: Terroristen ins Land und müssen deshalb auf den Weihnachtsmarkt jetzt laufen. Wenn unser Land noch nicht von Flüchtlingen, sprich: Terroristen unterlaufen wäre, könnten wir fahren‘. Aber das ja Quatsch. So kann das nicht gemeint sein. Wer ist in Zeiten, als unser Land noch viel weniger Zufluchts-Ort von Flüchtlingen war, schon mit dem Auto über’n Weihnachtsmarkt gefahren?
Also: Ich verstehe den Spruch einfach nicht. Die Liebste klärt mich auf: Das ist ironisch gemeint. Multi-Kulti, d.h. Einladen von Menschen aus anderen Kulturen, sprich: Terroristen in unser Land, funktioniert eben nicht. Läuft nicht. Wie man an den Betonklötzen sieht, die ja eben genau wegen dieser Leute aufgestellt werden müssen.
Ironie?! Das passt nun wieder gar nicht zu meinem Bild von Menschen, die sowas an Betonklötze sprühen. Ironie scheint mir so feinsinnig und spielerisch. Können Menschen mit stumpfstrammer rechter Gesinnung so sein? Feinsinnig und spielerisch? Offenbar traut die Liebste denen das zu. Ich fotografiere die Betonklötze. Es dauert ein wenig. Ich möchte ein gutes Foto haben. Gehe auch mal in die Hocke. Probiere Blickwinkel aus. Vergesse dabei meine Umgebung. Hinterher erzählt die Liebste, während der Aktion seien vier auf eindeutige Art Glatzgeköpfte und Springer-Gestiefelte und Bomber-Bejackte vorbeigekommen. Einer habe sich zu mir umgedreht und mein Tun mit einem lauten Kotz-Geräusch in meine Richtung kommentiert. Müsste er nicht, wenn er so denkt, wie es auf den Betonkübeln steht, gut gefunden haben, dass ich diesen Sprüchen die Ehre erweise, sie zu fotografieren? Müsste er in mir nicht einen Gleichgesinnten erkennen, der sich ein Andenken fotografiert? Woran hat der erkannt, dass ich nicht zu Seinesgleichen gehöre? Also ein linksversiffter Multi-Kulti-Spinner bin? Oder war es genau umgekehrt? Das waren linke Anarchos, die in meiner Glatze ein eindeutiges Das-ist-ein-Rechter-Zeichen gesehen haben und es zum Kotzen fanden, dass eine solche Nazi-Glatze auch noch stolz die eigenen Stumpf-Botschaften Betonkübel fotografiert?
Ein bisschen Angst habe sie gehabt, gibt sie zu.
Kurz danach hören wir weihnachtliche Bläsermusik. Mit diesem unnachahmlich weichen Klang von Blechblasinstrumenten, diesem sahnigen, sehnsüchtig weichen Schmelz, wie ihn nur osteuropäische Ensembles in Perfektion hinkriegen. Die Vier „Neva-Brass“ aus St. Petersburg zaubern wahrhaft schöne Klänge in die Fußgänger-Zone.
Ab und zu fiept eine Flöte dazwischen. Von irgendwo anders. Sie ist schrill und laut und frech, aber sie ist kein „Alternativ-Programm“. Im Gegenteil. Bei genauerem Hinhören stellt sich heraus, dass sie mitspielt mit den Petersburgern. Allerdings verrückt und zickig und schrill. Aber auch schön! So schön, dass wir uns fragen, ob da irgendwo noch einer steht, der zu den Petersburgern gehört, oder ob das eine bewusste Inszenierung ist. Wir schauen uns um. Sehen nichts. Während wir suchen, hört die Flöte auch auf. Dann entdecken wir ihn: Einen älteren Herrn. Gerade hebt er wieder die Flöte, tutet herum und macht Späße mit vorbeigehenden Passanten. Er ist eine Mischung aus Harlekin, Landstreicher und Clown. Er spielt und hüpft und lacht und spielt und hüpft.
Wir sprechen ihn an. Es ist Daniel. Er gehört nicht zu den Petersburgern. Als wir das fragen, lacht er kess. Nein, Nein!! Im Gegenteil!! Die sind manchmal sauer über ihn. Er muss vorsichtig sein und darf oft nicht zu nah ran. Als wir ihm sagen, dass es lustig und schön ist, wie er mit der Musik der Petersburger mitspielt und über sie improvisiert, lacht er wieder und meint, er würde das ja seit 20 Jahren machen und hätte also viel Gelegenheit gehabt zu üben.
Unser Streifzug geht weiter. Findet eine Pause in einem sehr schönen alten Cafe. So schön, dass kein Tisch mehr frei ist. Wir fragen eine ältere Dame, ob wir uns zu ihr an den Tisch setzen dürfen. Einladend stimmt sie zu. Sie ist Reiseleiterin bei einem Busunternehmen aus Brandenburg. Sie begleitet Reisegruppen auf ihren Tagesausflügen zu Weihnachtsmärkten. Lehrerin sei sie einmal gewesen. Als es die DDR noch gab. Ein wenig Wehmut umwölkt ihren Blick. Wir tasten uns in ein langes Gespräch. Sie erzählt, wie demütigend es gewesen sei, unmittelbar nach der Wende die Kündigung erhalten zu haben, wie demütigend auch, dass dann Berater*innen aus dem Westen auf allen möglichen Ebenen den Menschen in der DDR das Gefühl vermittelt hätten, Hinterwäldler zu sein. Immer weiter tasten wir uns vor in die Niederungen unserer Leben. Schließlich äußert sie ihre Besorgnis angesichts von, wie sie sagt, immer mehr Flüchtlingen, die hierher kämen und angesichts der Tatsache, dass es doch aber irgendwann vorbei sei mit der Aufnahmefähigkeit unseres Landes. Wir entgegnen, dass wir solche Gedanken einfach nicht denken könnten. Schon aus schlechtem Gewissen nicht. Schließlich sei ein erheblicher Teil unseres Wohlstandes gebaut auf den Schützengräben der Ausbeutung in afrikanischen und nordafrikanischen Ländern. Und es erhellt das Gemüt ein weiteres Mal: Zu erleben, dass es geht, über diese Dinge zu reden. Einander etwas vom eigenen Denken mitzuteilen und das des Gegenübers ernsthaft hören zu wollen. Plötzlich sind zwei Stunden um.
Am Abend hören wir in der Thomaskirche das Weihnachtsoratorium. Ein guter Teil davon ist auch für die Nicolai-Kirche geschrieben worden. Lange vor den Montagsgebeten … Jauchzet, Frohlocket. Wie üblich kommen mir schon bei dem Choral „Wie soll ich dich empfangen?“ beinahe die Tränen.
Zum Gewandhausorchester gehören unter vielen anderen der Lette Andris Nelsons, die Koreanerin Yun-Jin Cho, der Türke Kivanc Tire, der Chinese Mao Zhao, die Norwegerin Elisabeth Dingstad, der Franzose Tristan Thery, die Japanerin Miho Tomiyasu-Palma Marques, deren zweiter Nachname sich anfühlt, als sei sie – zum Beispiel – mit einem Spanier verheiratet, der Ukrainerin Mariya Krasnyuk, die fränzösische Japanerin oder japanische Französin oder, weil sie in Heilbronn geboren ist, Deutsche mit französisch-japanischer Migrationsgeschichte ist, die Russin Gayane Khachatryan, die als Cellistin gar nicht weit weg sitzt von der Ukrainerin, – sie alle spielen zusammen mit ihren deutschen Kolleg*innen und all den anderen aus allen möglichen Nationen dieses Oratorium, das die Geschichte erzählt von einem Menschen, der ja wohl in Nordafrika geboren ist, sich als Jude mit seinen eigenen Leuten angelegt hat und dann in die Mühlen der Machtpolitik geraten ist.
Und sie alle spielen eine Musik, die das Herz weit macht und den Geist frei und die trotzkopfdumm hoffen lässt auf das, was der Mensch kann.
Nach dem Konzert haben wir einen Tisch reserviert in einem italienischen Restaurant. Hinter uns sitzt eine fröhlich-laute Großfamilie mit bestimmt 4 Generationen. Sie sehen asiatisch aus. Es scheint ein kitschiger rosabunter Kindergeburtstag zu sein. Wir phantasieren, dass es Menschen sind, deren Vorfahren Vietnames*innen sind. Menschen, die auf der Flucht vor dem Krieg mit Amerika vielleicht Zuflucht gefunden haben in der DDR. Das Geburtstagskind bekommt unter anderem eine Barbiepuppe.
Ihr Bruder spielt auf der Bank etwas anbseits mit einem Hummer, – nein, nicht das Tier, – das Auto.
Multikulti läuft.
Ich lasse mir ein schönes Wort nicht zum Schimpfwort umgiften.