wochen-7-und-8

Die Wochen 7+8

Stationen:

Salerno – Porto d’Arechi,
Agropoli,
Bucht bei Ogliastro,
Palinuro,
Maratea,
Bucht bei San Nicola,
Cetraro,
Vibo Valentia – Marina

09. September 2018

(Salerno-Agropoli)

Geschenkewochen

Ein Tag wie ein Geschenk. Ein großes Paket. Man macht es auf. Findet darin viele weitere Geschenke. Man macht eins davon auf. Etwas sehr Schönes. Und noch ein hübsch verpacktes Etwas. Man macht es auf …
Am Morgen gehe ich ins Hafenbüro in Arechi, um den Hafenplatz zu bezahlen, den elektronischen Key für den Strom abzugeben, Pfand zurückzubekommen, den auf dem Key gespeicherten Stromverbrauch zu bezahlen, den Fahrradschlüssel zurückzugeben, das Pfand für das Fahrrad zurückzubekommen. Jeder dieser Akte war nach dem Ankommen hier und ist jetzt mit einem schon fast an Kabarett grenzenden Aufwand an Formularen, auszufüllenden Leerfeldern, Unterschriften und Pfandhinterlassenschaften verbunden. Stefan hatte schon vermutet, man hätte hier vor einigen Jahren intensive Fortbildungen in Deutschland genossen.
Wer jetzt aber denkt, hier im Hafenbüro wäre Stempelmief-Stimmung mit missmutigen Gesichtern und Beamtengras auf der Fensterbank, liegt falsch. Die zwei, die hier sitzen und die zwei in einem Raum hinten, sind allesamt sonnig und nett. Man macht Späße, wechselt freundliche Worte, lächelt und wickelt dabei gut gelaunt den Berg an Formularen ab. „Nome di barca?“ Lächeln. Zum x-ten Mal buchstabiere ich. „Acca, o, n, e, Ypsilon. Come miele in Inglese.“ Lächeln. „Ah, si, ricordo“, Lächeln. Der junge Mann fährt mit dem Finger über meinen Personalausweis. Er ist sich nicht sicher, welches mein Geburtsort ist. „Borken“. Lächeln. „60 anni fa“. Lächeln. Gespielte Verwunderung bei ihm: „Oh, certo?“ Ich übersetze es innerlich geschmeichelt mit „So alt sehen sie gar nicht aus.“ Ich: „Per essere esatto: 62“. Lächeln. Er: „Poco fa sessanta tre.“ Das Feld mit dem Geburtsdatum hat er schon ausgefüllt und sich das Geburtsdatum gemerkt. Er weiß, dass mein Geburtstag nicht mehr weit ist. Lächeln.
Regelmäßig schaue ich vorbei im Hafenbüro mit irgendeiner Frage. Wie läuft das mit den Waschmaschinen? Elektronischer Schlüssel, Formulare, – natürlich. Wo können wir Gas kaufen? Wo ist ein Supermarkt? Jedesmal dasselbe Spiel des schönen Lebens. Fragen, Antworten, Formulare ausfüllen, Nachfragen, nochmal Antworten, wieder ein Feld im Formular, Bitten, Ablehnen ohne „Nein“ zu sagen, oder Erfüllen mit sechsmal „si“ und sechsmal „certo“. Alles sind willkommene Gelegenheiten für Kontakt, nicht nur zielgerichtete Abwicklungsszenarien.
Heute Morgen sage ich, dass wir jetzt fahren. Wie aus einem Mund sagen beide Nein. Das gehe nicht. Wir müssten bleiben. Wir seien molto simpatico. Natürlich gebe ich das Kompliment zurück. Kontakt.
Kann ein Tag schiefgehen, an dem einem am frühen Morgen wildfremde Leute sagen, man sei molto simpatico?
Ich frage, ob es wohl nötig sei, in Agropoli – dort wollen wir hin – vorab um einen Hafenplatz zu bitten. Er verneint. Nein, zu dieser Zeit der Saison nicht mehr. Schon hat er das Handy in der Hand. Versucht einen Anruf. Gibt mir gestikulierend zu verstehen, ich solle kurz warten. Erreicht niemand. Lässt sich meine Handy-Nummer geben. Er wolle mich anrufen, wenn er die Person erreicht habe. Er kennt offensichtlich einen ormeggiatore in Agropoli.
Dann Abschied von den beiden. Ich schlurfe gut gelaunt zurück. Plötzlich höre ich hinter mir Rufe, die ich erst nicht auf mich beziehe. Dann doch. Denn ich höre „Onnie! Allo! Onnie!“ Langsam übersetzt mein Hirn. „Honey, hallo! Honey!“ So heißt doch unser Schiff. Ich drehe mich um. Der junge Mann aus dem Hafenbüro kommt auf einem viel zu kleinen Fahrrad angefahren. Seine langen Beine drohen dauernd unter den Lenker zu stoßen. Entsprechend eirig fährt er. Er erreicht mich, bleibt stehen und übergibt mir einen Zettel mit einem Namen, – Andrea – und einer Telefonnummer. Hier solle ich anrufen, wenn wir ankämen. Andrea würde am „pontile communale“ arbeiten. Da würden wir einen Platz bekommen. Er würde von der Stadtverwaltung betrieben. Dort wäre die erste Nacht umsonst. Und lächelt. Und ich auch. Wieder ein Geschenk.
Das nächste Geschenk: Ein strahlend blauer Himmel. Weiche Wärme. Sommer in Reinform.
Wir packen noch eins aus: Die Wetterberichte waren sich einig darin, uns kaum Wind anzukündigen. Wir waren schon darauf eingestellt, einen großen Teil der Strecke zu motoren. Und jetzt weht doch ein guter Wind. Und auch noch aus einer guten Richtung. Wir können tatsächlich gut segeln. Wir dürfen wieder diesen wundervollen Moment erleben, wenn man den Motor abstellt und Schiff und Seele sich leicht auf die Seite legen und sich an den Wind anlehnen.
Stundenlang ziehen an uns vorbei: Vereinzelte Fischerboote, einige Pfirsiche, Trauben, Nektarinen, Kekse, einige Wolken, die vor allem dazu da sind, mit ihren weißen Klecksen das Blau des Sommers zu betonen, tiefsinnige Gespräche, geradezu von spiritueller Intensität, – selbst einfache Sätze plustern sich in dieser wohligen Wolke schönen Daseins dazu auf, sonnen sich, ziehen sich wieder zurück und machen Platz für komplett sinnfreie Albernheiten vom Kaliber „die 10 Seemeilen machen dann den Helmut auch nicht mehr fett“, tiefsinniges Schweigen, Lächeln, hohles Glotzen, weil man irgendeinem schemenhaften Gedanken nachhängt und selbst Gesichtsmuskel-Tätigkeit komplett übertriebener Muskelaufwand wäre bei der Hitze, zärtliche Berührungen, zärtliches wieder Loslassen, sich gegenseitig besonders schöne Blicke zeigen.
Irgendwann dann auch den auf ein Dorf, das sich wie eine Haube auf einem Hügel versammelt hat.

Agropli Altstadt auf Hügel

Agropoli, unser Ziel. Eine Viertelstunde, bevor wir in den Hafen einlaufen, rufen wir die Nummer an, die wir bekommen haben. „Pronto?!“ Es ist Andrea. Er weiß schon Bescheid. Als wir in den Hafen einlaufen, steht er auf der Pier und winkt mit beiden Armen, wo wir hin sollen. Er wartet mit Seelenruhe, bis wir das Schiff vertäut haben, erklärt uns ein paar Sachen, schaltet Strom und Wasser frei, schreibt ein paar Daten aus den Schiffspapieren ab. Alles, was er dafür braucht, hat er in einem Täschchen in seinem Fahrradkorb. Es ist sozusagen das ormeggiatore-Fahrrad. Sein Kollege Marco benutzt es auch.

Agropoli Ormeggiatore Fahrrad

Am Abend essen wir in einem Restaurant im alten Teil der Stadt oben auf dem Hügel. Wir sitzen an einer Brüstung mit einer unglaublichen Aussicht über die ganze Bucht.
Dass die Pizza, die wir uns als letzten, als Hauptgang teilen wollen, als erstes kommt, die Muschel-Spaghetti, die wir uns als zweiten Gang teilen wollten, danach und während der ersten auf die Gabeln gerollten Portionen die frittierten Bällchen, die wir uns als Vorspeise teilen wollten, nehmen wir mit Humor. Auch die Tatsache, dass wir die beiden Gläser Wein erst nach dem Essen trinken. Denn das Essen war ja nicht im Geschenke-Paket.
Wohl aber die Nacht im Schutz der Madonna am Ende der Hafenmauer.

Agropoli Hafenmauer beleuchtete Madonna

 

10. September 2018

(Agropoli)

Zum ersten Mal auf dieser Reise geht es mir am Morgen richtig schlecht. Kopfschmerzen, leichter Schwindel, leichte Übelkeit, das Herz pocht den Hals hinauf, leichtes Frösteln und zugleich hitziger Kopf. Ein Zustand wie an dem Tag, als ich nach den Niereninfarkten aus dem Krankenhaus entlassen wurde und, zuhause angekommen, gleich wieder eingeliefert wurde mit einem viel, viel zu hohen Blutdruck. Ich habe Angst. Ich alter Hypochonder verlasse wie betäubt den gestern noch so festen Boden zuversichtlich sicherer Lebensfreude und steige hinab ins dunkle Schattenreich der Sorge. Erst am frühen Nachmittag steige ich wieder hinauf. Die Beruhigungsformel ist: Am Vortag zu viel Sonne und zu wenig Wasser. Sie wirkt, auch wenn ich keine Ahnung habe, ob’s stimmt.

10. September 2018

L’anarchia della vita quotidiana in Italia

(Die Anarchie des Alltagslebens in Italien)

Da gibt es eine lange Hafenmauer. Sie schützt auf’s Beste den Hafen. Sie hat ein schickes Geländer, auf dass der Hafenbedienstete, der das Leuchtfeuer am Ende der Mole warten muss, sich gut festhalten könne, wenn er sich bei schwerem Wetter auf den Weg zum Leuchtfeuer macht. Sie ist sehr, sehr, sehr lang. Niemand anders als Bedienstete darf diese Mauer betreten. Das wird durch viele, viele, viele Schilder mehr als deutlich gemacht.

Agropoli Schilder auf Hafenmauer

Es hat sogar Versuche gegeben, das Verbot durch zusätzliches Flatterband zu verstärken.

Agropoli Hafenmauer Flatterband

Selbstverständlich darf schon gar nicht der Aufgang auf die Hafenmauer benutzt werden, hinter dem ein nettes kleines Stück Strand liegt. Denn das wäre ja viel zu gefährlich.
Und genauso selbstverständlich werden diese Verbote ignoriert. Die Hafenmauer wird den ganzen Tag für diverse Aktivitäten genutzt. Besonders gerne als Sportstrecke. Abends für die passegiata.

Agropoli Hafenmauer Sport

Und natürlich wird auch der Strand benutzt.

Agropoli Strandaufgang Verbotsschilder

Mit Freuden.
Und mal ehrlich: Sieht dieses nette Schildchen im Ernst wie ein Warnschild aus?

Agropoli Warnschild Wellenschlag

 

 

11. September 2018

(Bucht bei Ogliastra)

Aeneis, 13. Buch, 1-69

Noch heute künden die Namen der Orte von den alten Geschichten:

Punta Licosa Kartenausschnitt

Kartenausschnitt Palinuro

Kartenausschnitt Maratea

Jupiter war’s in seiner unstillbaren Begierde
Näherte sich Licosa, der schönsten der Sirenen.
Als Kind der Lust gebar sie ihm die schöne
Ogliastra. Liebreizend, heimtückisch, anmutig, wild
Lebt‘ es im ganzen Wesen das Schicksal seiner Zeugung.
Jupiter wollte das Kind dem Einfluss der Mutter entzieh’n.
Doch ihr Weinen erweichte noch einmal sein göttliches Herz.
Er gewährte der Tochter entgegen der ersten Absicht
Die Nähe zur Mutter, aber entfernte sie zugleich
Von ihr, denn er erhob das wachsende Kind in den Stand
Der Götter, die über alles menschliche Sein sich erheben.
Diese jedoch erzürnten über diesen Frevel
Ihres Herrn und lehnten sich dagegen auf.
Diana, Neptun, Vulcan. Sie taten sich zusammen
Und trennten mit Sturm und Beben und anderen Gewalten
Den Wohnort der Ogliastra durch Klippen und Felsenschlunde
Vom Orte der Licosa, damit sie beide nur schwer
Noch zueinander kommen könnten. Und sie belegten
Den Wohnort der Ogliastra mit einem Bann, der besagte
Dass jeder, der diesen Ort würde jemals sehen oder
Besuchen, auf ewig verpflichtet wäre von ihm zu schweigen.
Ein Mensch, der hierhin käme, müsste sich dem Orakel
Von Palinura stellen. Nur, wenn dieses erklären
Würde, dass der Besucher für immer von diesem Orte
Schweigen würde, könne er leben. Wenn nicht, dann müsste
Ogliastra ihn eigenhändig töten, auf dass der Ort
Ein immerwährendes Geheimnis bleiben müsse
Bewohnt von der einsamsten Göttin, die je im Universum
Lebte. Dies Schicksal erlegten sie der Ogliastra
Auf als Rache an Jupiter, ihren Göttervater.
Ogliastra fügte sich willig dem Schicksal und wuchs heran
Zur einsamen Götterfrau, die, kaum gesehen
Von jedem auf ewig im Bann des Verschweigens gehalten wurde.
Licosa, die Mutter, zürnte ihrem sirenischen Wesen
Gemäß und maßlos gesteigert als gekränkte Mutter.
Einen Seefahrer nach dem anderen lockte sie mit
Vergiftetem Gesang ins Verderben. Keiner von ihnen
Überlebte. Alle starben in den Klippen
Oder sie mussten nach gescheitertem Orakel
Den einst bestimmten Weg des tödlichen Endes gehen.
Dies alles wusste Äneas nicht, der mutige Held.
Wohl aber wusste er von der tödlichen Macht der Sirenen.
Er widerstand mit eisernem Willen dem gift’gen Gesang.
Und fand ohne Schaden den Weg ins liebliche Gestade
Der Ogliastra. Sie sah ihn, sie nahm ihn auf und schickte
Wie es wohl ihre Bestimmung war, nach dem weisen Orakel.
Voll Sorge erwartete sie den Boten mit dem Urteil.
Sie hatte noch nie so sehr gehofft wie jetzt auf ein gutes.
Alles Hoffen vergebens! Auch diesmal hieß das Orakel:
Tod! Tod dem Manne, der wie noch keiner ihr Herz
Berührt und ihre Sinne belebt hatte. Sie hieß es Liebe.
Und sie wollte nur dieses eine Mal nicht folgen
Der göttlichen Fügung, dem bitteren Urteils-Spruch des Orakels.
In ihrer Verzweiflung rief sie Venus an, die Mutter
Von Äneas und auch eine Göttin, hoffend auf Milde
Und Verständnis für Liebe. Diese enttäuschte sie nicht.
Sie riet ihr ein zweites Orakel einzuholen, wie es
Bei schwerer Entscheidung schon vor ihr Männer und Frauen getan.
Nach der Priesterin Maratea solle sie schicken.
Diese sei unbestechlich und wahrhaft und voller Frieden.
Vielleicht könne deren Orakel das erste unheilvolle
Mäßigen und ein neues freundliches Urteil erwirken.
Sie aber, Ogliastra, müsse, um neuen Zorn
Der Götterbrüder zu verhindern ihren Äneas
In fester Gefangenschaft halten bis zu dem neuen Urteil.
Dies tat Ogliastra. Sie bannte Äneas auf ein Schiff
Vor der Küste. dies ließ sie von freundlichen Walen bewachen.
Jeden Abend besuchte sie ihn mit Speisen und mehr.
So harrten sie beide hoffend des neuerlichen Urteils.

(Vergil, Aeneis, 13. Buch, 1 – 69
Übersetzung: Mintar Khirgge. [Die Übersetzung ahmt den Hexamter nur insofern nach, als sie die 6-Hebigkeit einhält und mit der Mischung von Daktylen und Trochäen die im klassischen Hexameter gebräuchlichen Pausen nach bestimmten Halbversen nachahmt. Sie ergänzt den klassischen Hexamter um Auftakte und um weibliche Kadenzen. Die/der geneigte Leser*in mag selbst entscheiden, ob diese metrisch freiere Form dem Original-Werk angemessen ist. Sie/er möge dabei berücksichtigen, dass im modernen Deutsch der Rhythmus der Sprache nicht vornehmlich durch Längen und Kürzen entsteht, sondern durch Hebungen und Senkungen. Die „Eins-zu-Eins-Übertragung“ des Systems von Längen und Kürzen in das von Hebungen und Senkungen erscheint mir allzu leicht gestelzt. Deshalb habe ich diese metrisch eher freiere Übersetzung von Khirgge gewählt.])

 

12. September 2018

(Palinuro)

Freunde sind wir nicht geworden. Das Städtchen Palinuro und wir. Ich gebe zu, das Städtchen hat’s nicht leicht gehabt mit uns, – nach Agropoli und Ogliastro. Aber es hat es auch nicht versucht mit uns. Die ormeggiatori eher gelangweilt, – fast ein bisschen mürrisch. Wortkarg. Bemüht mit einem Minimum an Kontakt uns in Empfang zu nehmen, um möglichst schnell wieder zurück zu kommen ins Hangin‘around im Schatten beim Hafenbüro.
Schon beim Anlegen ist klar: Die Pier ist so hoch, dass wir nicht über unsere eigene Gangway vom Schiff kommen. Über die Badeplattform schon gar nicht. Mein Blick schweift umher. Manchmal liegen in solchen Häfen Holzplanken herum, die man als Gangway benutzen kann. Ja, die könnten wir nehmen, bedeutet uns der ormeggiatore. Ich bin gespannt, ob er es schafft sich zu bewegen und die Planke zu uns zu schieben. Wir kommen ja nicht dran und er wirkt erstmal nicht so, als wollte er sich irgendwann überhaupt nochmal bewegen. Aber dann doch: Er schlurft zwei Schritte, bückt sich und schiebt die Planke in unsere Richtung. Das Geräusch, das sie macht, als sie über das Pflaster schrappt, hört sich an, als wollte auch sie sich auf keinen Fall bewegen. Schon gar nicht auf unser Schiff. Wie es sich für eine Planke gehört, hat sie an jedem Ende durch ein Loch gezogen ein Bändsel, mit dem man sie auf Pier und Schiff fixieren kann. Diese Bändsel aber sind nur noch traurige Reste. An den Stellen, die ein langes Scheuerleben im Loch hinter sich haben, bestehen sie nur noch aus einzelnen Fasern, die bei der nächsten größeren Belastung drohen zu reißen.
O.k.. Anspruchsvolle Aufgabe. Planke installieren. Multikomplexes Geschäft. Sie muss sicher liegen. Sie darf nicht die Oberfläche des Schiffes beim Bewegen beschädigen. Sie muss auch bei hohem Wellengang oder bei großen Wasserstandsänderungen sicher liegen. Sie soll nirgendwo anstoßen, schon gar nicht dauernd, damit sie nichts beschädigt oder unseren Schlaf stört. Sie muss leicht hoch zu binden sein in der Nacht, um noch sicherer frei und geräuschlos schwingen zu können. Bei diesem traurigen Etwas von Planke ist das eine Arbeit von mehr als einer Stunde.

Menschen, die über die Pier flanieren und ungerührt neugierig in unser Boot glotzen. Ein Kellner in der Hafenkneipe, dem wir ebenfalls lästig scheinen. Wir müssen weg von diesem Hafen und nehmen einen Shuttle-Bus ins Städtchen. Der Fahrer schickt uns schon nach einer Haltestelle, die kaum 1 Kilometer entfernt ist, wieder raus. Dort – er zeigt auf ein kleines Sträßchen – gehe es zum Zentrum, er biege jetzt hier ab. Das Städtchen ist, – na eben ein Städtchen. Das Zentrum ist eine relativ neu gebaute Kirche. Der Platz davor schafft es wahrscheinlich auch am Abend nicht in den Status der Piazza. Ein lauthals streitendes Paar in einem verfallenden Haus mit unfassbar schönem Blick auf’s Meer ist schon fast ein Lichtblick. Immerhin lächeln wir. Italien!
Auch aus dem Städtchen müssen wir raus. Wir hatten ein Hinweis-Schild auf einen Weg zu einem Leuchtturm gesehen. Dem wollen wir jetzt einfach folgen. Je höher wir kommen, desto weiter weg sind wir von den Niederungen des Daseins „da unten“ und desto schöner wird es.
Bucht bei Palinuro

Palinuro Untiefe beim Hafen

Palinuro Blick auf Felsen im Wasser

Oben auf der Kuppe des Berges hinter Palinuro erreichen wir tatsächlich ein Gelände mit einem Turm. Nur der idyllische runde, am besten weiße Leuchtturm, der den Seefahrern entgegenlächelt, ist das nicht. Der Turm ist viereckig, gelblich-beige, von hohem Zaun umgeben, mit Schildern bewehrt: Zona militaria, gehörnt mit einer Unzahl Antennen. Wir drehen wieder um. Noch höher können wir nicht. Wir finden eine Stelle, an der wir mit einem sehr schönen Weg durch einen alten Pinienwald die Strecke zum Hafen abkürzen können.
Am Abend wollen wir essen gehen. Vorher einen Spaziergang machen in Richtung eines Kaps, das wir vom Schiff aus sehen können. Bestimmt gibt es da einen grandiosen Sonnenuntergang. Etwas zu spät kommen wir weg. Wir schauen den Hang hoch. Dort oben steht ein idyllischer runder weißer Leuchtturm mit einem roten Häubchen. Unmittelbar hinter einem größeren beigen mit Antennen drauf. Sonnenuntergang am Kap. Eine idiotische Idee, – angesichts der Verhältnisse. Die Zeit würde zwar passen, aber am Himmel haben sich in wilder Drohgebärde Wolkentürme versammelt. Ich meine, da oben hängt ein großes Schild: Zona Militaria! Heute kein romantischer Sonnenuntergang. Wir dackeln zurück. Inzwischen ist es so dunkel, dass wir den Weg kaum noch erkennen. Außerdem beginnt der Himmel seine Drohung wahr zu machen.
Immer öfter zerreißen grelle Blitze die Schwärze des nächtlichen Gewitterhimmels in gleißende Fetzen. Immer öfter brodelt gewaltiger Donner durch die Täler nahe dem Meer. Beides in immer kürzeren Abständen von einander.
Wir schaffen es trocken ins Restaurant. Kaum sitzen wir, öffnet sich draußen der Vorhang zu einem Drama epischer Wucht. Wie aus dem Nichts stürzen sich Windböen unter das schützende Glasdach über der Terrasse, auf der wir sitzen und sprühen dichte Nässe hinein. Ein Wolkenbruch, den man als Regen nicht bezeichnen kann. „Giorgio!!“. Der Restaurantbesucher ruft einen Mitarbeiter. Giorgio kurbelt schnell die Kunststoff-Seitenwände der Terrassenanlage herunter. Die Wände sind durchsichtig. Schließich sind wir ja Publikum eines epischen Dramas. Rechts in der Ecke kleckert wild ein Sturzbach zwischen Dach und Wand ins Innere. „Giorgio!!“. Die Kellnerin bekommt einen Reißverschluss der Seitenwand am Eingang nicht zu. „Giorgio“. Irgendwann hat Giorgio die Lage im Griff und wir können bestellen. Wir fühlen uns wie im Inneren eines Aquariums, nur dass das Wasser draußen ist. Ganz langsam gewöhnen wir uns an das wilde Theater da draußen und genießen die Vorspeise. Am Rand steht plötzlich ein Mann. Zupft, – noch unentschlossen, ein wenig an den Saiten einer Gitarre herum. Hier?? Ein rumänischer Straßenmusiker, der sich mit romantischer Musik für die Restaurant-Gäste ein paar Euro verdienen will? Wie ist der in dieses Aquarium gekommen? Dann ist er erstmal wieder weg. Beim zweiten Gang ist er wieder da. Jetzt steht er zwischen unserem und dem zweiten noch besetzten Tisch. Jetzt ist er entschlossen. Er spielt und singt ein Lied, das unsere Tischnachbarn offenbar kennen. Sie lächeln. Ab und zu blubbern ein paar Töne und Silben aus ihnen heraus wie kleine bunte Seifenblasen. Der Mann endet, nimmt unseren Beifall entgegen und erklärt etwas zu dem Lied. Wir verstehen kaum, was er sagt, aber immerhin soviel, dass wir wissen: Es geht um traditionelle neapolitanische Lieder. Kein Rumäne. Die Beiden am Nachbartisch scheinen den Mann zu kennen.
Das Drama draußen geht weiter. Irgendwann fährt einer der Blitze mitten zwischen uns: Fast gleichzeitig fällt uns ein, dass wir die kleinen Fenster an unserem Schiff noch offen haben. Das machen wir oft, wenn wir das Schiff verlassen. Aus Lüftungsgründen. Wir Idioten! Das haben wir doch in Castellamare schon erlebt! Wie schnell aus einem Gewitterchen ein infernalisches Flutungs-Szenario wird. Mir fällt zu allem Überfluss noch ein, dass meine Kamera offen unter einem dieser kleinen Seitenfenster liegt. Erster Impuls: Nichts wie hin! Retten, was zu retten ist! Zweiter Impuls: Sinnlos! Erstens ist es eh zu spät. Zweitens haben wir die mühsam aufgebaute Gangway-Konstruktion abgebaut. Bis wir die wieder so eingerichtet haben, dass wir irgendwie auf’s Schiff kommen, sind wir nicht nass bis auf die Haut, sondern bis auf die Knochen. Unsere Stoßgebete, dass es bitte, bitte nicht so schlimm sein möge, wie wir befürchten, werden begleitet von den lieblichen Klängen eines neuen neapolitanischen Liedes.
Gnädigerweise hört der Regen dann tatsächlich irgendwann auf. Wir gehen zurück. Fummeln provisorisch die Planke ans Schiff. Steigen mitten hinein in das Drama. Im Salon und in einem Teil der Schlafkabine ist vieles nass. Manches klatschnass. Die Kamera hat richtig was abgekriegt. Schweigend machen wir uns an wenigstens ein bisschen akute Schadensbegrenzung. Die Liebste die Bettwäsche, das klatschnasse Hafenhandbuch, die Schuhe und vieles mehr. Ich die Kamera. Mit Küchentuch und Messer versuche ich möglichst viel Nässe aus den Ritzen zu bekommen. Wir hoffen beide inständig, dass das Wasser nur oberflächlich geblieben und nicht wirklich eingedrungen ist.
Irgendwann gehen wir inmitten des improvisierten Trockenraumes schlafen. Schlafen ein. Werden wach. Können nicht wieder einschlafen. Scheißnacht.

Palinuro nass gewordene Gegenstände im Schiff

Polinaru und wir: Das ist keine Erfolgsgeschichte. Und sie hat einen Höhepunkt, den wir dämlicherweise auch noch selbst verschuldet haben.

16. September 2020

(Maratea)

Ob es daran liegt, dass dieser kleine Hafen mit einem Dorf drumrum und einem centro storico oben am Berg auch von einer Statue einer heiligen Figur beschützt wird?

Maratea Jesusstatue auf Berg

Maratea empfängt uns ganz anders als Palinuro und hält uns ganz anders. Vom jungen Mann, der uns als ormeggiatore empfängt bis zu der Stimmung im Hafendorf und weiter oben im centro storico. Alles ist einladend und freundlich. Selbst noch beim Abschied bekommen wir eine Zugabe. Der junge ormeggiatore nimmt zum ersten Mal seine Spiegelsonnenbrille ab und uns bleibt mal kurz die Luft weg, welch nette Augen dieser Mann hat.
Zum ersten Mal begegnen wir allerdings auch dem Herbst. Über die Badeschildkröte, die schon luft- und lustlos über’n Bootsrand hängt machen wir noch Nachsaison-Späße.

Maratea Freizeitboot Badeschildkröte

Unsere Wanderung aber hoch in den Berg zum alten Maratea endet bei 10 Grad weniger und mit dem Kauf von zwei Pullovern, weil wir naiven Sommersegler wie üblich kurzärmlig und kurzbeinig hier hoch gestapft sind.

 

17. September 2018

(Ankerbucht bei San Nicola)

Am frühen Nachmittag, als wir dieses kleine Paradies finden, sind noch ein paar unverzagte Nachsaison-Genießer*innen am Strand nahebei. Einige wagen sich sogar schwimmend oder kletternd in ‚unsere‘ Bucht. Aber am späten Nachmittag sind wir ganz allein. Glauben wir.
Ich taste mich mit dem Beiboot ans felsige Ufer heran und finde tatsächlich einen Platz, wo ich es lassen kann. Dann kraxel ich hoch. Fotografiere unser einsam daliegendes Schiff.

San Nicola Segelyacht vor Anker

Auf dem Rückweg höre ich ein merkwürdiges Surren. An einer Biegung fällt mein Blick in eine versteckte Seitenbucht. Unten sehe ich ein Paar und einen einzelnen Mann. Der Mann des Paares hilft einer Frau gerade in ein Brautkleid.San Nicola Bucht Hochzeitspaar

Der einzelne Mann steuert eine Drohne. Hier entstehen gerade die ultimativen Hochzeitsbilder. Hoffentlich.

18. September 2018

(Cetraro)

La vera Italia

Es ist so schön das zu erleben. Du steigst vom Schiff. Du schaust Dich um. Ein großer Yachthafen, in dem aber kaum noch Betrieb ist. Was uns einerseits freut, was aber andererseits auch einen Hauch von Trostlosigkeit hat. Das Hafengelände noch gepflegt und einladend. Das Drumherum ganz und gar nicht. Verfallende Gebäude. Gerümpelecken. Müll. Autowracks unter schiefen Strohmattendächern. Hier würde ich tausend und ein grandioses Foto zu meiner Serie „Was vom Leben übrigblieb“ machen können.
Kaum Menschen unterwegs.
Und als die Sonne hinter einen trüb-orangenen Grauschleier sich verdrückt hat, folgt die dazu passende Melancholie.
Trotzdem stürzen wir uns hinein in diese Welt.
Und kaum haben wir die ersten Kontakte, fühlt sich wieder alles ganz anders an. Da sitzen auf wackeligen Stühlen hinter einer schon sehr siechen Strauchhecke zwei ältere Paare vor einem Kiosk, der wirkt, als wäre er kaum mehr als eine mit Chipstüten und Zigarettenschachteln notdürftig umfunkionierte Garage. Die vier nuckeln alle an einer Bierflasche und plaudern. Wir fragen nach einem Restaurant und einem Lebensmittelladen. Die Gesichter der Vier hellen sich auf. Wort- und gestenreich beschreiben sie uns Wege. Wir verstehen zwar wie üblich nur die Hälfte, aber wir baden in der Freundlichkeit. Außerdem behält man hier eh nie die ganze Wegbeschreibung. Man fragt ja an der nächsten Ecke wieder. Fast hätten wir uns spontan dazugesetzt und auch ein Bier getrunken. Die nächste Ecke, wo wir wieder nach dem Weg fragen. Ein älterer Herr, der seinen Hund Gassi führt. Wieder wort- und gestenreiches freudiges Geplapper. Wir finden den Lebensmittelladen. Er ist eigentlich zwei Läden. Vorne ein Stoff-, Näh-, Putzmittel-, Hausarbeitsladen. Hinten ein Lebensmittelladen. Vor den Läden eine ältere und eine jüngere Frau auf einer wackeligen Holzplanke als Bank. Die Hauswand als Rückenlehne. Beide stehen auf. Bedienen uns drinnen. Wir bezahlen und hantieren noch ein bisschen mit den Taschen. Die beiden sind schon wieder draußen. Als wir gehen, verabschieden sie uns mit einem wunderbaren Lächeln.
Das Restaurant, das uns empfohlen worden war, ist uns zu weit. Wir nehmen einfach die nächstbeste Pizzeria. Sie ist leer. Ein Mann empfängt uns lächelnd. „Suchen Sie sich einen Tisch aus.“
Im weiteren Verlauf des Abends stellt sich heraus, dass er gebürtiger Engländer ist, der seit vielen Jahren in Cetraro lebt und da jetzt eine recht neue Pizzeria versucht am Laufen zu halten. Im Hintergrund läuft erst Tottenham gegen Inter und dann Liverpool gegen Paris St. Germain. Die Gäste, die später noch kommen, schauen mit. La vera Italia.

19. September 2018

(Cetraro – Vibo Valentia)

Tief einatmen

Die Liebste macht ein Nickerchen auf der Sitzfläche im Cockpit. Ich träume am Ruder so vor mich hin. Irgendwas im Augenwinkel weckt mein Interesse. Intuitiv fühle ich: Das gehört da nicht hin. Ich schaue auf und sehe einen kleinen Vogel knapp über der Wasseroberfläche vorwärtsflattern. Ach so, ja, klar, Vögelchen. Denke ich träge. Nichts Ungewöhnliches. Es braucht eine ganze Weile, bis meine dösig vor sich hin dümpelnden Synapsen die richtigen Schaltwege gefunden haben und mir signalisieren: Kleines Vögelchen flattert knapp über der Wasseroberfläche? Hier draußen? Weit vom Land entfernt! Sehr, sehr weit! Kann nicht. Ich schau nochmal hin. Leider ist das Vögelchen weg. Ich will die Synapsen schon anweisen, das Ganze einfach unter „Hirngespinst“ abzubuchen, da stieben plötzlich gleich drei Vögelchen aus dem Wasser. Ziehen flatternd 30/40 Sekunden eine schnurgerade Flugbahn übers Wasser und tauchen wieder weg. Manchmal schießen gleich 5 oder 6 gleichzeitig aus dem Wasser. Beim Übergang Wasser-Luft ziehen sie wie in geplanter Formation mehrere symmetrisch in einem leichten Winkel auseinanderstrebende getupfte Linien über die Wasseroberfläche und schießen dann in genau dieser Formation auseinander. Fliegende Fische. Ich versuche mir das vorzustellen. Sie wimmeln unter Wasser hin- und her. Haben Bock, ein bisschen über Wasser zu tauchen. Ziehen sich noch mal so eine richtige Dosis Sauerstoff aus dem Wasser, halten dann die Kiemen an und versuchen so lange wie möglich über Wasser zu bleiben. Erst, wenn es den Kiemen schon ganz, ganz eng wird, tauchen sie wieder ein und saugen prustend neuen Sauerstoff.

19. September 2018

(Vibo Valentia)

Dieser Hafen hat gute Chancen, die Challenge „Lieblingshafen“ zu gewinnen.
Nach einer sehr schönen, aber auch sehr langen Fahrt, die ganz lange unter einer leichten Gewitterdrohung stand, kommen wir in Vibo an. Wie üblich kündigen die ormeggiatori an, dass sie uns im Schlauchboot entgegen kommen. Sei nähern sich. Einer von ihnen, Michele, klettert vom Schlauchboot zu uns auf’s Schiff. Er ist überaus freundlich und zugleich überaus zurückhaltend. Zuerst erklärt er uns, wo wir hin müssen. Dann fragt er scheu, ob er jetzt das Ruder übernehmen könne. Kurz danach steuert er das Schiff mit unglaublicher Ruhe sehr, sehr langsam und aufmerksam durch enge Durchfahrten, an Mooringleinen und Yachten vorbei in eine enge Lücke. Das alles ohne ein Wort zu sagen. Und trotzdem uns freundlich zugewandt.
Was für ein Empfang. Und als wäre das nicht schon genug, taucht, als wir schon im Cockpit sitzen und uns der Frage nähern, wie der Nachmittag jetzt weitergeht, eine junge Frau mit einem Tablett auf. Darauf stehen zwei Gläser mit einer weißen Füllung und einer bräunlichen Soße drauf. Sie gibt uns zu verstehen, dass das für uns sei. Ein kleiner Willkommensgruß der „Marina Carmelo“. Crema mandorle con salsa al caramello.

Begrüßung im Hafen mit Mandelcreme

Geschenkewochen.

 

Und vor allem: Jede Menge unfassbar schöne Blicke

Angela

Felsen im Meer vor San Nicola

Sonnenuntergang Maratea

Palinuro Martin

Cilento Aufgeblähtes Hauptsegel