acht

Frühling

Ein Sonntag. 8.März. 180. Beide Türen zur Terasse sind offen. Wir lassen die Sonne die Räume fluten. Genau der richtige Tag, um ein Lied wiederzuentdecken, das ich vor 30 Jahren geschrieben habe. In guter alter Liedermacher-Manier. Es gefällt mir noch immer, obwohl ich etwas peinlich berührt bin vom belehrend ernsten Klang meiner Stimme.

Auf andere Art anders

Heute ist meine Strecke
Auf andere Art anders als
In den Tagen, die vergangen sind
Die milchige Wärme
Einer milden Morgensonne mischt
Sich mit der harschen Kälte
Der Nacht
In anderen Welten
Zu anderen Zeiten:
Ob da der Tag heute
Der richtige gewesen sein würde?
Der für das Frühlingsopfer lang ersehnte?
Und ob das junge Mädchen
Gebannt gewesen sein würde
In freudige Erwartung der Ehre
Die ihr zuteilwerden würde?
Vorsicht – eine aufgetaute Riesenpfütze
Schau
Trotzkopfdumm
Auf deine Füße!

Wutwörter

Erst, als es einigen Menschen kaum noch möglich war, überhaupt irgendeinen zusammenhängenden Text zu sprechen oder zu schreiben, war auch dem letzten klar, was für eine Revolution einige Tage vorher begonnen hatte. Inzwischen lag ein Bekennerschreiben vor, das heißt, – es war nicht eigentlich ein Schreiben. Es war ein Gedanke. Ein Bekennergedanke. Er verbreitete sich auf rätselhafte Weise. Die Menschen erlebten ihn wie einen eigenen Gedanken und wussten doch zugleich von anderer Urheberschaft.

„Wir werden nicht weiter hinnehmen, für Bedeutungen missbraucht zu werden, die wir nicht vertreten können.“

Es war schwer zu rekonstruieren, welches das erste Wort gewesen war. Die meisten Experten jedoch waren sich einig, dass es sich um das Wort „Sinn“ handelte. Es war hier und da aus Formulierungen verschwunden. Menschen, die das Wort in bestimmten Zusammenhängen benutzen wollten, bekamen es nicht über die Lippen. Sie bewegten sie zwar und Lippenleser hätten das Wort auch identifizieren können, aber zu hören war es nicht. Wenn diese Personen dann auf die Idee kamen, es aufzuschreiben, sah man sie die richtigen Bewegungen machen oder die richtigen Buchstaben-Tasten drücken, jedoch zu sehen war das Wort nicht. Es war, als wär das Wort durch irgendeine magische Kraft in der Lage selbst zu entscheiden, in welchem Zusammenhang es hör- oder lesbar sein mochte und in welchem nicht. In einer Formulierung wie „Tut mir leid, aber ich verstehe den Sinn, der darin sein mag, noch nicht.“ tauchte es deutlich vernehmbar auf, in Sätzen wie „Hör auf mit dem Unsinn!“ fehlte es schlicht. Man hörte nur „Hör auf mit dem Un     !“

Für den gleichnamigen Wirtschaftsprofessor kam das teilweise Verschwinden des Wortes einer Katastrophe gleich. Er konnte sich nicht mehr vorstellen. Auf seinen Publikationen war nur noch „Prof.“ zu lesen oder „Prof.“ und „Hans Werner“. Sein Ausweis war unvollständig, – ein Zustand, der auch mit geschicktesten Techniken nicht veränderbar war. Er konnte sich nicht mehr einloggen, jedenfalls da nicht, wo sein Account nicht auf einem Pseudonym basierte. Selbst verklausulierte Formulierungen wie „der Wirtschaftsprofessor, der vormals unter dem Namen ‚Sinn‘ bekannt war“, brachten das Wort nicht zum Vorschein. Das Verschwinden des Wortes war in seinem Fall eindeutig mit seiner Person verbunden, denn anderen Menschen mit dem gleichen Nachnamen widerfuhr ähnliches nicht, jedenfalls nicht allen.
Das gleiche Phänomen zeigte sich kurze Zeit später dann bei dem Wort „Gott“. Man hörte „     es Wille ist unergründlich“ oder las „Wir werden einen      esstaat errichten“ usw. Zunächst betraf es nur die deutschsprachige Form des Wortes. Je erfinderischer Journalisten oder auch Propagandisten wurden, das Wort zu umschreiben bzw. andere Ausdrücke zu wählen, umso größer wurde der Kreis der partiell verschwindenden Wörter. Sehr vielen Menschen kam das Wort „Allah“ abhanden, anderen „Jahwe“. Ein besonders interessantes Phänomen grassierte plötzlich in jüdischen Zusammenhängen. Hier wurde aus den vielen Umschreibungen, die es ermöglichen von Gott zu sprechen, ohne das Wort zu benutzen, plötzlich das Wort „Gott“. Diese Welle brachte jüdische Religionsgelehrte ebenso in größte Schwierigkeiten wie einfache Gläubige, weil ihnen der Glaube ja verbot, das Wort auszusprechen und es ihnen trotzdem ungewollt über die Lippen oder die Schrift kam, – hörbar und lesbar für jedermann. Eine wahrlich mystische Art des Wort-Verschwindens.

In religiösen Zusammenhängen entstand bald danach eine regelrechte Auflösungswelle. „Heilig“ war betroffen, „gläubig“ oder „Sünde“, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Soziologen und Sprachforscher machten sich schon bald nach Entstehen dieser Welle daran, das Phänomen zu ergründen. Dabei wurden naheliegende Thesen entwickelt, ebenso wie eher abwegige. Natürlich betraf das Wörterverschwinden auch die Sprachforscher selbst. Man hörte von einem, der ganz aus dem Thema ausstieg. Der Kernbegriff seiner Theorie war der Begriff „Wahrhaftigkeit“. Und genau der verschwand aus allem, was er von sich gab. Eine wirklich stichhaltige Theorie entstand jedoch nicht. Dazu gab es einfach zu viele widersprüchliche Verschwindenszusammenhänge. Klar war nur: Das Verschwinden der Wörter war manchmal an eine bestimmte Person gebunden, manchmal an bestimmte Verwertungszusammenhänge, manchmal an beides, manchmal an beides gerade nicht.

Das Phänomen löste schnell eine sich rasch verbreitende mediale „must-info“-Welle aus, ohne aber im konkreten Alltag der meisten Menschen übermäßig bedeutsam zu sein. Noch war es eher ein unterhaltsames auf schicke Art metaphysisches Phänomen. Entsprechend waren die Kommentare in den sozialen Netzwerken und den Foren eher von Ironie und Sarkasmus geprägt. Es habe diesem oder jenem endlich mal die Sprache verschlagen, diese oder jene zeige deutliche Symptome von Alzheimer – tränenlachender Smiley – usw.

Das aber sollte sich dramatisch ändern, denn eines der nächsten Worte war das Wort „Liebe“. Das Wort selbst und alle Ableitungen waren betroffen. Die Verweigerung einer ganzen Wortfamilie und auch noch einer, die in unzähligen Zusammenhängen größtmöglichen emotionalen Effekt haben soll, ließ mit einem Schlag aus einem eher belächelten „Promi-Laber-Manko“ eine fast epidemische angsteinflößende Behinderung werden. Dazu kam, dass nun auch beträchtlicher ökonomischer Schaden zu erwarten war. Nur noch hartgesottene Nihilisten und Zyniker machten weiterhin ihre Späße. Die meisten anderen Menschen begannen sich ernsthaft Sorgen zu machen.
Ein Wort nach dem anderen kam hinzu. Kaum noch jemand war von dem Stammeln, dem man aktiv und passiv ausgeliefert war, nicht betroffen. Bestimmte Ausdrücke verschwanden fast ganz und hinterließen nur noch beinah spastisches Kieferklappen, begleitet von gleichermaßen beschämten wie ängstlichen Blicken. „Unbezahlte Mehrarbeit“ war so ein Ausdruck, der im gesamten Bildungsbereich praktisch verschwand. „No go“ verschwand aus der Modewelt. „Sale“ aus der Geschäftswelt, „vernünftig“ fast überall, „alternativlos“ aus der Politik, die Ausdrücke „tief“ oder „hoch stehen“ aus der Fußballwelt.

Die ungeheure Verunsicherung, die mit der Verunmöglichung unbedarften Sprechens verbunden war, trieb schon bald die seltsamsten Blüten. Der Comic-Markt boomte. Das Lippenlesen wurde in Volkshochschulkursen gelehrt und zum Volkssport, – ein Effekt, der allerdings auch schnell wieder nachließ. Offenbar gingen die Wörter dazu über, auch das artikulatorisch eindeutige Bewegen des Sprechapparates zu verhindern. Als die zweite Generation der Lippenlese-LehrerInnen ausgebildet war, war der Trend schon fast wieder vorbei.

Menschprozession am Strand

Eine beinah gespenstisch anmutende Bewegung waren gigantische Prozessionen zu temporären Weihestätten des Schweigens, die aus dem Nichts entstanden, eine Zeitlang als Gedanke die Menschen in bestimmte Richtungen lenkten, um im nächsten Moment sang- und klanglos wieder zu verschwinden.

Die gesamte Sprachwelt befand sich praktisch über Nacht mitten in der größten Umwälzung ihrer Geschichte.

Heute gibt es keinerlei Garantien, keine Tricks, keine Hintertürchen. Ein Wort erscheint oder klingt oder eben nicht. Wohin das führen wird, ist völlig offen. Foren, Kommentarfunktionen, Kurznachrichten, Blogs, Twitter – die medialen Wortnutzungszusammenhänge solcher Art sind besonders betroffen. Sie scheinen sich in einem Erosionsprozess zu befinden, der möglicherweise die eine oder andere Kommunikationsform ganz wird verschwinden lassen.

Die einzig         volle Art des Umgangs mit diesem Phänomen scheint zu sein: Sich Zeit lassen. In Ruhe nach Worten suchen. Denn man ist ihnen ja letztlich              .

An die Kyss-Bank

Betr.:               Inheart-Konto
Nutzername: trotzkopfdumm

Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit beantrage ich die Löschung der folgenden Buchung:

Kyss Bank 2. Buchung

Begründung: Die Darlegung des Buchungsgrundes beruht auf falschen Fakten. Die Anfrage wurde nicht mit „Nein“ beschieden, sondern mit „Ja“. Die Buchung wurde vorgenommen, weil der Ich-/Aber-Identität durchaus bewusst ist, dass ein „Nein“ angebracht gewesen wäre. Sie hat aber diese Entscheidung nicht geschafft. Die Buchung ist also ungerechtfertigt.

Ergänzung: Mir ist bekannt, dass laut § 2 der AGB eine einmal getätigte Buchung nicht storniert werden kann. Deshalb beantrage ich zusätzlich zum Antrag auf Stornierung der obigen Buchung eine Änderung der AGB wie folgt:
§ 2 in der alten Form wird gestrichen.
Neue Fassung:
§ 2 Einmal getätigte Buchungen können nur dann storniert werden, wenn
Abs. 1 … die zu stornierende Buchung von der Ich-/Aber-Identität selbst vorgenommen und nicht von einer/m Außenstehenden beantragt wurde.
Abs. 2 … die kontoführende Ich-/Aber-Identität stichhaltig darlegen kann, dass die Buchung zu Unrecht vorgenommen wurde.

Mit freundlichen Grüßen

trotzkopfdumm