38. Kapitel

achtunddreissig

Berlin ist arm. Aber sexy?

 

Berlin Schlafplatz eines Obdachlosen

Berlin Quartier Hauptbahnhof

Berlin-Mitte. Der Hauptbahnhof könnte ein richtig schönes Gebäude sein. Zumindest eines, das mit seinem Betonglas-Stahl-Protz nicht nur einschüchtert. Sondern das Betrachten mit innerem Glanz belohnt.

Könnte … Denn die Umgebung macht diese Chance zunichte. Sie macht das Gebäude zu einem missglückten Versuch. Der wahrscheinlich als Modell beim Bewerbungsverfahren, begleitet von einer schicken Präsentation, noch inspirierend war, die Phantasie anregte. Ein Phantasie, die jetzt, Wirklichkeit geworden, verloren in einem trotz der Menschenfülle unbelebten Nicht-Quartier steht. In Tristesse verendet. Überkritzelt von großen um sie herum in die Welt geflanschten streng rechtwinkligen Quadern. In einem von ihnen mein Hotelzimmer. Das Hotel ist Teil einer Hochhauszeile, die auf ebener Erde mit ihren schicken Eingangsvordächern, ein paar Kübelpflanzen, ein paar Sonnenschirmen und ein paar Leuchtlettern auch nur wie ein trauriger Rest verblichener Lebendigkeitsphantasie ist.

Am Morgen begebe ich mich vom Hotel zur Tram. Passiere einen Bauzaun. Er ist nach außen aufgeschickt mit einer roten Plane. Werbeschriftzüge einer Immobiliengesellschaft. „WHERE PEOPLE LOVE TO WORK“. Nebenan eine Outdoor-Pop-Up-Cocktail Bar.

Ein Mann hockt vor der Plane. Er hat einige Botschaften an sie geheftet. Heftzweckenpieksen belebt schreiende Immo-Werbung.

Ich spreche ihn an. Er antwortet auf Englisch. Also wechsle ich auch die Sprache. Ob er mir von seinem künstlerischen Projekt erzählen mag. Das möchte er. Es sei eigentlich kein Kunst-Projekt. Er lebe auf der Straße und habe diesen Platz ein wenig gestaltet. Auf dass er einlade zu lesen. Zu betrachten und dann vielleicht etwas in seinen Becher zu werfen. Er wolle nicht einfach nur betteln. Er wolle auch zum Nachdenken anregen.

Nach dem kleinen Gespräch verabschieden wir uns. Schon kurz vor der Tramstation kehre ich wieder um. Spreche ihn nochmal an. „Sorry, I forgot to ask you for your name.” “Ahhh, yes! My name is Morten and what’s your name?” “Martin.”

Wir wechseln ein Strahlen. Nur zwei Buchstaben Unterschied. Zwischen zwei Welten. Mit gleichem Namen.

Ein Mensch, den ich sehr schätze, hat mir eines seiner Gedichte zu lesen gegeben. Es kam mir sehr nahe. So nahe, dass ich den Wunsch hatte, es für meinen Blog zu „adoptieren“. Zu meiner Freude willigte er ein…:

 

Kleiner denken II

Kleiner, nicht gar nicht
denken,
bescheidener,
menschennäher.
Uns Menschen nähren
mit Zuspruch
uns ernst nehmen, annehmen
in unserem Groß sein im
Klein sein
in unserem Klein sein
im Groß sein

Gebunden, verwoben,
behaust durch Millionen Jahre
durch Familie, Familiengeschichten,
erst recht durch Biologie und Chemie,
und ja:
Begnadet mit Traumvermögen und
Tanz
Hoffnung und Liebe
mit Vermögen zu Abgründen aller Art
und auch
dem Gegenteil.

Lernen zu buchstabieren:

Wer kommt mir entgegen?
Wem komme ich entgegen?
Wer flieht vor mir?
Vor wem flieh ich?
Auch: vor was?

Wem kann ich geben
zu essen, zu kleiden
von wem kann ich empfangen
ohne zu tauschen
zu zahlen

B.Damm 24