Erlaubnis
Nicht mehr Nacht und noch nicht Tag.
Plötzlich nimmst du das erste Licht wahr. Du wunderst dich über dieses „Plötzlich“. Du warst ja da. Du hattest die Augen geöffnet. Und doch hast du den allerersten Beginn des Lichtes nicht gesehen. Und auch sein erstes Wachsen nicht. Es ist offenbar mit unüberbietbarer Allmählichkeit in die Welt gesickert.
Eine noch gar nicht sichtbare Sonne tupft allererste kleine orangene Schimmerfelder an die Bäume.
Morgendunst erhebt sich schläfrig von der Erde.
Unter den Nebelschwaden, die er zurücklässt, entdeckst du plötzlich ein Reh. Vollkommen mit sich allein feiert es das Leben und steht äsend mitten auf der Lichtung.
Du sammelst Spannung in den Gliedern.
Du weißt, dass du jetzt nicht das kleinste Geräusch machen darfst. Das erste Klopfen eines Spechtes irgendwo dahinten schlüpft durch die Wahrnehmung des Rehs ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Aber wenn du jetzt versehentlich mit den derben Waldschuhen an die Holzwand deines Hochstandes stoßen würdest, würde es – fast gleichzeitig mit dem Geräusch – den Kopf heben.
Und vielleicht flüchten.
Mit der Behutsamkeit des Nebels legst Du den Lauf Deines Gewehres auf dem Rand des Sichtfensters ab. Eine schöne Waffe. Sie liegt ausgewogen schwer in der Hand. Die Präzisionsmechanik lässt den Metallbogen des Abzuges vollkommen geräuschlos bis zum Anschlag schieben.
Du versammelst weitere Spannung in deinem Blick.
Ein winziges „Jetzt“.
Auf dem Höhepunkt bleibst du auch dann ruhig, als du den Druckpunkt des Abzugs überwindest.
Ein dunkler Knall zerfurcht die Stille.
Einen Moment bleibt die Welt stehen.
Dann bricht das Reh über die Vorderfüße zusammen.
Wie bringst du das fertig? Wie gibst du dir selbst die Erlaubnis?
Welche Schaltung im Herzhirn braucht es, um mit dieser Ruhe einen Todesschuss anzusetzen? Zu vollziehen. Seine Wirkung zu beobachten und nicht in Trauer zu zerfließen.
Dich eben nicht zu schämen, weil du gerade den Frieden selbst zerfetzt hast.
Sondern ruhig, fast ein bisschen triumphierend den Hochstand hinunterzuklettern. Das dem Adrenalin geschuldete heftige Verlangen nach aufgeregtem Bewegen zurückzudrängen.
Auf das Opfer zuzugehen. Zu testen, ob es wirklich tot ist und dann mit würdevollem Stolz zu dir selbst zu sagen: Gute Arbeit.