coronawoche6

Tag 42

Zwei linke Gehirnhälften

Wenn ich in einen Baumarkt gehe mit einer Frage, von der ich vermute, dass richtige zertifizierte Heimwerker sie lächerlich finden, dann baue ich vor und kokettiere mit meiner Ungeschicklichkeit. Ich leite ein mit: Haben Sie schon mal von dem Mann mit den zwei linken Händen gehört?
Ja?
Das bin ich.
Meistens kriege ich ein honoriges ‚Gibt keine doofen Fragen, gibt nur doofe Antworten‘ geschenkt.
Dabei habe ich gar keine zwei linken Hände. Aber ich fürchte: Zwei linke Gehirnhälften.

Ich verbringe den halben Sonntag mit der Lösung eines Problems. Die ganze Abteilung ‚Elektronik‘ in meinem Zimmer hängt an einer Steckdose. Diese kann ich zentral an einem Schalter neben der Tür ein- und ausschalten. Er sieht aus wie die beiden Lichtschalter darüber.
Ich tippe drauf, wie üblich, weil ich Computer und Keyboard bespielen will. Nix. Ich tippe nochmal und nochmal. Nix. Ich weiß, dass ‚Nochmal-Drücken‘ totaler Quatsch ist. Aber ich schiebe damit etwas auf, von dem ich weiß: Es ist genauso unangenehm wie unvermeidlich: Ich muss in die unheimliche Unterwelt des Kabelgewirrs in den Kellergewölben des Schrankes neben meinem Schreibtisch hinter der Schiebetür unter der Schräge kriechen. Erreichbar ist es nur durch eine schräge Luke ganz rechts in der Ecke. Zugänglich ist sie nur, weil ich unheimlich lange Arme habe.
Ich habe sofort die entscheidende Diagnose: Es ist diese uralte Mehrfachsteckdose, der ich noch nie so richtig getraut habe. Kein Problem: Ich krieche eine Etage unter das unterste Regalbrett hinter der Schiebetür vor dem Schrank unter der Schräge, stöpsele die Mehrfachsteckdose aus und freue mich schon darauf, wenn ich gleich die ganzen Geräten mit einer schicken, deutlich jüngeren Steckdosenleiste beglücke.
Und dann dämmert mir: „Gleich“ ist ein schöner, aber unerfüllbarer Traum. Die Steckdosenleiste selbst liegt auf dem oberen Regalbrett hinter der Schiebetür vor dem Schrank unter der Schräge. Zwischen Wand und Regalbrettern passt kein Stecker durch. Weder der alte von der kaputten Leiste, noch der neue. Der Plan, sich die alte Leiste erstmal anzusehen, d.h. sie auseinanderzubauen und sie zu reparieren, ist schon mal schwieriger. Aber gut, dann baue ich sie eben unterm untersten Regalbrett im Kellergewölbe hinter der Schiebetür vor dem Schrank unter der Schräge auseinander. Denke ich.
Geht aber nicht. Da gibt es nichts, nicht einmal einen Hauch von irgendwas, was man auseinanderbauen könnte. Also die neue Leiste. Von der alten schneide ich dann den Stecker eben einfach ab.
Die neue Leiste hat tatsächlich Schrauben. An der Seite und am Boden.
Optimistisch suche ich Werkzeug zusammen und trage es auf die Baustelle.
Ich drehe die Seitenschrauben auf. Ich drehe die, … oh, nein, geht ja gar nicht. Das sind ja gar keine normalen Schrauben. Wie normale Schlitzschrauben, nur, dass der Schlitz in der Mitte mit einer kleinen Brücke verschlossen ist. Natürlich probiere ich erstmal mit einem klitzekleinen Schraubenzieherchen, ob ich es nicht doch irgendwie gefummelt kriege. Aber nach dem zweiten Abrutschen und haarscharfem Vermeiden einer lebensbedrohlichen Stichwunde sehe ich ein, dass ich ein passendes Werkzeug brauche. Zum Glück haben meine beiden Nachbarn nicht nur sowas von keine zwei linken Hände, sondern auch jede Menge Werkzeug. Und das ist, im Unterschied zu meinem, auch noch so geordnet, dass sie es auf Anhieb finden.
Wieder zurück, schraube ich mit diesem Wunderding die Steckdosenleiste tatsächlich auf. Dabei bete ich, dass die Kabel drinnen verschraubt sind. Bitte, lieber Gott, (in extremen Situation bin ich deutlich gläubiger als sonst), lass sie nicht gelötet sein.  Ich bleibe unerhört, was verständlich ist bei meiner Vorgeschichte. Die Kabel sind gelötet.
Glaub bloß nicht, dass ich jetzt aufgebe, Leiste! Ich hole den Lötkolben und schaffe tatsächlich, die beiden stromführenden Leitungen ohne größere Kollateralschäden abzulöten. Ich fummele das Kabel von unten hoch zum obersten Regalbrett. Dort löte ich, über den halben Schreibtisch hinweg ins Kabelgewölbe hineingebeugt, die Leitungen wieder an. Das geht besser, als ich dachte. Viel länger hätte mein Rücken diese Haltung aber auch nicht goutiert.
Als ich die Werkzeuge hole, um die Leiste wieder zusammen zu schrauben, fällt mir auf, dass ein Bauteil, das an der Seite festgeschraubt wird, sich noch liebevoll an den Stecker im Untergeschoss schmiegt. Es muss aber nach oben und passt auch nicht durch den Wand-Regalschlitz. Also löse ich die Lötstellen wieder, puhle das Kabel aus dem Kellergewölbe und will das Bauteil ans obere Ende des Kabels schieben. Dabei fällt es auseinander. Dass es nur zusammengesteckt war, hatte ich nicht gesehen. Ich hätte also die Lötstellen nicht lösen müssen.
Selbst die zweite Lötaktion funktioniert gut, obwohl schon unter starker nervlicher Belastung.
Das Zusammenschrauben auch. Das Besteckern der Leiste auch.
Guten Mutes gehe ich zum Schalter und freue mich schon auf das lustige Aufblinzeln der diversen Kontrollleuchten.
Nichts. Nochmal schalten. Nichts.
Ja wie?
Neue Leiste auch kaputt?
Schmerzhafte Einsicht: Schalter kaputt. Jetzt bin ich schon im Zustand tiefer Selbstzerfleischung.
Ich baue ihn auseinander und sehe, dass die Idee richtig ist. Ich finde einen Lichtschalter, den ich nie brauche, baue ihn aus und schließe ihn an dieser Stelle an.
Passt. Funktioniert.

Meine Freude ist, sagen wir: Gedämpft.
Ich muss dringend meine rechte Gehirnhälfte trainieren.

Tag 41

Garantien im Minidrck

… teilen wir Ihnen mit, dass wir Ihrem Wunsch leider nicht entsprechen können. wir verweisen in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Garantiebestimmungen, die dem Produkt beigefügt sind …

 

Tag 40

April am 1. Mai

1. Mai.
So gegen 12. 140. Regen. Wind.
Endlich April!

Tag 39.2

„Die weiße Hexe“, so werden die etwas ruppigeren Kinder in der Siedlung sie nennen. Die sanfteren vielleicht „Kräuter-Oma“. Kennen werden sie alle hier in der zutiefst unschmucken Kolonie in Essen-Frintrop.
Wir begegnen ihr, als wir wieder mal emschern. Eigentlich wollten wir ein ganzes Stück an der Emscher entlangwandern. Ab Höhe ‚Centro‘ in Oberhausen. Und dann so lange Richtung Bottrop, bis wir keine Lust mehr haben. Schon nach einem Kilometer springen wir auf einen anderen Zug. Eines der Schilder, die immer mal wieder an der Emscher stehen und über Besonderheiten informieren, weist auf ein kleines Biotop hier in der Nähe in zwei, drei km Entfernung von der Emscher hin. Es lockt uns, weil es verspricht, dass hier „Läppkes Mühlenbach“ – ehemals ebenfalls eine Abwasser-Kloake, die dann in die Emscher mündet, – komplett renaturiert zwischen dichten Sträuchern, hohen Bäumen und lauschigen Lichtungen silbrig kullernd durchs Dickicht fließt. Drumherum eine Naturlandschaft, die sich mutig zwischen die Industrieanlagen, die Siedlungen und die Gewerbegebiete hier drängelt. Wie ein Mahnmal mittendrin der Rest der alten Kloaken-Einfassung.
Kaum sind wir auf einem Pfad in das Gebiet hineingeschlüpft, taucht sie auf. Wallendes, langes, sanft gewelltes weißes Haar. Eine schwatte Bollerbuxe. Schon ziemlich verwelkte Turnschuhe. Und ein Mantel in einer Farbe, der man unangemessen schmeicheln würde, wenn man sie beige nennen würde. Oder hellgrau. In ihrer Hand pendelt ein Jutetasche. Faltig, wie sie ist, scheint sie leer zu sein.
Die Dame sieht meinen Fotoapparat und spricht mich an. „Wat wolln se denn hier fotografieren? Die Vögel, die nicht mehr kommen?“ Dabei funkelt sie mich an. Ich schweige einen Moment verduzt und kann ihren Blick nicht deuten. Wenn ich jetzt was sage, denke ich, löse ich womöglich eine kleine Verwirrtheits-Eruption aus.
Aber nein. Sie redet weiter. „Nein wirklich. Gibt ga keine Meisen mehr, dies Jahr. Ich weiß dat, ich geh jeden Tach dahinten hinter die Sträucher die Vögel füttern. Soll man ja nich, san’g se immer. Nur im Winter. Aber ich fütter ja nich. Ich gab ja nur Leckerchen. Dat ganze Jahr. Meisen komm‘ ga nich mehr. Und seit die von’n Baum gefallen sind, kommt dat Rotkehlchen auch nich mehr. Traurig is dat.“ Obwohl es traurig ist, lächelt sie. Meine Unsicherheit ist verflogen. Wir reden über diese seltsame Vogelkrankheit, der tatsächlich die Meisen zum Opfer fallen. Sie scheint die Theorie zu haben, dass das Rotkehlchen dann eher aus Solidarität wegbleibt. Scheint eine Bergmannswitwe zu sein. Da kennt man dat noch: Solidarität. Wir spekulieren zu dritt. Dass vielleicht auch das Insektensterben …
Ihr Blick wandert kurz ins Nichts. Dann fällt ihr ein: „Aber Schmetterlinge gibtet hier noch. Und ich sach Ihnen. Sooo schöne.“ Bei „Sooo“ schwingt sich ihre Stimme kurz in die Luft, als würde sie einem dieser flatternden Kunstwerke folgen.
Und sie erzählt weiter, dass sie auch den drei Pferden immer Leckerchen bringe, die da auf‘fe Weide stehen. Die Vögel und die Pferde, – die würden dat schon kennen. Wär ja auch immer so ungefähr die gleiche Zeit, wenn sie ihre Runde mache. Die kämen dann schon immer an.
„Und wissen `se wat?! Kürzlich kam dann auch so’n Rabe. Der hüppte dazu. Und wollte auch wat haben. Hab ich ihm auch Leckerchen gegeben. Und wissen `se, ich red dann ja auch mit denen. Und wenn die Zeit um ist, dann sach ich auch Tschüss. Und kürzlich hab ich dann die Pferde Tschüsse gesagt. ‚Tschüss, Flora‘, sachich, ‚tschüss Amanda, tschüss Tine. Und als ich dann so weggehe, kommt auf eima der Rabe angehüppt. Und steht da so vor mir, als wollter, dat ich ihm auch tschüss sage. ‚So‘ sachich, ‚du willz, dat ich dir auch tschüss sage. Ja, dann sach ma, wie heißt du denn`. Und da sachter ‚krakra‘. Und da sach ich: ‚Na, dann tschüss, KraKra.‘“ Dabei neigt sie sich leicht vor und schaut auf den Boden vor ihr. Als würde KraKra jetzt gerade da stehen. Unvermittelt richtet sie sich wieder auf und schaut uns beiden ganz begeistert ins Gesicht. „Ist dat nich schön, wat man inne Natur so erleben kann?!“
Sie wünscht uns noch einen schönen Tag und schlurft davon. Wir schauen ihr ein Weilchen versonnen hinterher. Und lassen uns ein wenig fluten von kitschiger Ruhrgebietsromantik.

Info-Tafel, beschmiert, Läppkes Mühlenbach

Viele von den Vögeln sind weg. Vielleicht jetzt auch die Schmierfinken.

Kloakenrest, Läppkes Mühlenbach

Hier floss Läppkes Mühlenbach, bevor er renaturiert wurde.

Tag 38

Man stelle sich einen Käfer vor,
Unruhig kreisend läuft er auf dem Asphalt hin und her.
Er hat Angst, seine Wiese nicht mehr zu finden.
Manchmal fragt er sich, ob es nicht besser wäre, konsequent in eine Richtung zu gehen.
Dann bekommt er Angst, dass das genau die falsche wäre, – die Richtung, in der der Asphalt immer weiter geht.

Tag 37

Die Kanzlerin hat Recht mit ihrer Sorge, die Deutschen könnten wieder sorgloser werden.
Selbst die Gänse werden nachlässiger.
Jeden Tag schaue ich einmal bei ihnen vorbei und gucke, ob sie meine Masken noch tragen. Heute waren sie ab.

Tag 36

Kaum traue ich mich noch zu schreiben. Oder etwas anderes zu tun, was Geist und Wachheit voraussetzt.
Nach gestern.