Ich beobachte einen Mann mittleren Alters an der Kasse eines Supermarktes. Das Entgegennehmen der Gegenstände, die die Kassiererin eben über das Strichcode-Lesegerät gezogen und nach dem erwarteten „Piep“ weitergereicht hat. Das Bezahlen, von dem die Kassiererin erfährt, dass es „mit Karte“ geschehen soll. Das Ablehnen des entgegengereichten Bons. „Brauch ich nicht“. Das Verabschieden ohne Erwiderung.
All das geschieht, ohne dass der Mann auch nur einmal den Blick der Kassiererin sucht.
Mir fällt ein, dass ich das oft und verwundert beobachte: Dass Menschen mit anderen Menschen Dinge abwickeln, ohne sie anzusehen. Die ältere Frau, die mit der Handtasche auf dem Schoß ein Eis bestellt. Der junge Mann, der die Straße überquert und den Blick des Autofahrers, der eben angehalten hat, vermeidet.
Was wohl in ihnen vorgehen mag. Ob sie scheuen, beim Begegnen der Blicke sich ihrer Gegenwart leibhaftig zu werden? Macht ein erwiderter Blick mich leiblich wahr und anders, als dies mein innerer Blick auf mich tut?
- 37. Kapitel
- 36. Kapitel
- Zwischenspiel 21 Streets of Berlin
- 35. Kapitel
- Zwischenspiel 20 Ihn hat der Rhein genommen
- 34. Kapitel
- Zwischenspiel 19 Tagliamento - Begegnung mit einem Fluss
- 33. Kapitel
- Zwischenspiel 18 Ein Jahr Krieg in der Ukraine
- 32. Kapitel
- 31. Kapitel
- Zwischenspiel 17 Drei Wochen Kalabrien
- Zwischenspiel 16 Pianova - 5 Tage in Ostfriesland
- 30. Kapitel
- Zwischenspiel 15 Impfpflicht
- 29. Kapitel
- Zwischenspiel 14 Assisi Vielleicht
- Zwischenspiel 13
- 28. Kapitel
- 27. Kapitel
- 26. Kapitel
- Zwischenspiel 12 - Acht Tage Winter-Wunder-Welt
- 25. Kapitel
- 24. Kapitel
- Zwischenspiel 11 6 Tage in Berlin
- 23. Kapitel
- 22. Kapitel
- 21. Kapitel
- Zwischenspiel 10. Coronagener Lebens-Wandel
- Coronawoche 13.
- Coronawoche 12
- Coronawoche 11
- Coronawoche 10.
- Coronawoche 9
- Coronawoche 8
- Coronawoche 7
- Coronawoche 6
- Coronawoche 5
- Coronawoche 4
- Coronawoche 3
- Coronawoche 2
- Coronawoche 1
- 20. Kapitel
- 19. Kapitel
- Zwischenspiel 9 Porto
- 18. Kapitel
- Zwischenspiel 8 Nachlese: Il viaggio dei due pensionati
- Zwischenspiel 7, Il viaggio dei due pensionati
- Prolog
- Wochen 1 und 2
- Wochen 3 und 4
- Wochen 5 und 6
- Wochen 7 und 8
- Wochen 9 und 10
- Wochen 11 und 12
- Zwischenspiel 6
- Zwischenspiel 5 Ein paar Tage in Frankfurt
- 17. Kapitel
- 16. Kapitel
- 15. Kapitel
- 14. Kapitel
- 13. Kapitel
- 12. Kapitel
- Zwischenspiel 4 Urlaub in der Toscana
- 1. Woche
- 2. Woche
- 3. Woche
- Wieder zurück
- 11. Kapitel
- 10. Kapitel
- Zwischenspiel 3
- 9. Kapitel
- 8. Kapitel
- Zwischenspiel 2
- Zwischenspiel 1
- 7. Kapitel
- 6. Kapitel
- 5. Kapitel
- 4. Kapitel
- 3. Kapitel
- 2. Kapitel
- 1. Kapitel
neun
Auf einer morgendlichen Autofahrt entdecke ich an einer Autobahnbrücke ein Bild. In letzter Sekunde fotografiere ich es mit dem Handy. Auch nicht gerade das, was man bei konzentriertem Autofahren tun sollte.
Graffitti, – war das nicht irgendwas mit urbanem Underground? Was mit illegal, mit Nacht und Nebel, mit Stadtdesperados in Kapuzenpullovern, mit „Achtung, die Bullen!“?
Ob sie ihre Anzüge schon im Kofferraum haben? Im Auto, das ihnen Papa für diesen Tag geliehen hat? Zu dem sie gleich zurückkehren, um sich umzuziehen und zum Festakt zu fahren?
Die Kinder erzählen aus den Sommerferien. Einer berichtet begeistert, er habe sehr schöne Ferien gehabt, obwohl er gar nicht in Urlaub gefahren sei. „Oh, das hört sich interessant an. Erzähl doch mal. Was hast du denn gemacht?“
„Ich war ganz oft mit Omma und Oppa im Strebergarten.“
Die Enkelinnen sind zu Besuch. Sie spielen am Teich. Lebewesen suchen. Sie finden eines. Auf einem Seerosenblatt liegt eine Libelle. Sie bewegt sich nicht. Ob sie tot ist? Zu gern würden sie es herausfinden und wollen sie von dem Blatt heben. Aber sie haben Angst, sie beim Bergen zu verletzen. Schließlich finden sie eine Lösung. Mit für kleine Kinder kaum vorstellbarer Vorsicht schieben sie zwei kleine Stöckchen unter den leblosen Leib und heben die Libelle auf einen Gartentisch. Ob sie etwas essen muss? Am ehesten ja, so überlegen sie, etwas aus dem Teich. Sie schieben Reste von Wasserpflanzen dorthin, wo sie den Mund vermuten. Lange beobachten sie das Wesen. Schließlich sagt eine traurig: „Sie ist ganz tot“. Dann herrscht lange ehrfürchtige Stille. Schließlich arrangieren sie den Körper und andere Fundstücke zu einer, – ja zu was? Ich glaube: Zu einer Weihestätte. Lange verharren sie vor ihrem Werk.
Dann wenden sie sich wieder dem Teich zu. Lebewesen suchen.
Ich besuche wie jeden Donnerstag meine Mutter im Altenheim. Als ich durch die erste Tür bin, stehe ich in der Halle, die ich sonst einfach nur durchquere, mitten in einer Veranstaltung. Die alten Leute sind alle versammelt. Vorne auf einer angedeuteten Bühne steht ein älterer Herr, der alte Schlager singt. Seine noch dichten weißen Haare, sein dezenter Schick, sein geübter Ton im Umgang mit dem Publikum. Er macht das nicht zum ersten Mal. Meine Mutter mitten im Publikum. Sie ist, wie viele hier, schon sehr weit entschwunden ins Land des Vergessens. Die Frauen und Männer, viele von ihnen in Rollstühlen, sind eingeladen mitzusingen. Sie tun es auch. Auch meine Mutter. Immer wieder blubbern Fragmente von Silben und Tönen aus ihren Mündern. Klingende Seifenblasen, die einen Moment durch den Raum schweben und dann versiegen.
Dann stimmt er dies an:
Am Abend wollen wir noch auf ein Glas Wein ins Städtchen. Schon von Weitem hören wir vom Markplatz Fetzen von Musik und verwehtes Stimmengewirr. Als wir da sind, erleben wir eine feiernde Menschenmenge. Eine Bühne ist aufgebaut. Auf ihr eine Band. Ein Frontmann. Aufgemacht. Irgendwas zwischen Rex Gildo und Hardrockstar. Rechts von ihm zwei Tanzmäuschen. Mit hautengen Glitzer-dresses. Sehr weit ausgeschnitten. Sehr, sehr weit. Sehr kurze Hosen. Sehr, sehr kurz. Rhythmisch bewegte Titten und Ärsche. Auf demselben Platz, auf dem noch vor ein paar Wochen Hunderte von Menschen vor der Kirche standen und schweigend dem Trauergottesdienst um die Schülerinnen und Schüler folgten, die bei dem Flugzeug-Unglück zums Leben gekommen waren.
Jetzt aber bellt der Frontmann: „Ich will Haltern feiern sehen!! Ich will die Hände oben sehen!! Ich will Euch hören!!“ Es gelingt. Er ist sichtbar zufrieden. Mit dem ganzen Markplatz singt er „Atemlos durch die Nacht“.
Ein Spaziergang in Köln. Wir überqueren die Hohenzollernbrücke. Einmal mehr betrachten wir fasziniert die Schlösser, die Liebende dort angehängt haben.
Geradezu lächerlich lange suche ich nach einem Schloss, auf dem steht: „Michael und Reinhold“ oder gar „Mustafa & Cem“.
Jetzt bin ich schon so alt und sehe doch dies zum ersten Mal:
Der Wald steht schwarz und schweiget
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Oder habe ich es doch schonmal gesehen und einfach vergessen? Wie konnte ich!
Haltern am See. Der Schwarm der Aasfresser ist weitergezogen. Nahrungssuche bei anderen Katastrophen.
Trauer
Nun, Trauer, schenk mir Schweigen
Führ mich in das Haus des Schmerzes
Halt mich, bis
Meine Seele sich an die Dunkelheit gewöhnt hat
Bleib bei mir, wenn sie die Verse des Leids liest
Die auf die Wände geweint sind.
Bleib bei mir, wenn ich mich weitertaste
Tiefer hinein
In die lichtlosen Räume
Soweit, bis ich – irgendwann
Im Schein der Kerze
In einem Fenster
Die seidenen Fäden sehe.
Und wenn ich ihnen wieder trauen kann,
Dann: geh, Trauer.
Download
Absender:
Kyss-Bank
Betr.: Inheart-Konto
Nutzername: trotzkopfdumm
Sehr geehrter trotzkopfdumm,
hiermit teilen wir Ihnen mit, dass wir Ihrer Bitte um Löschung der 2. Buchung nachkommen.
Wir weisen jedoch vorsorglich darauf hin, dass diese Stornierung eine Einzelmaßnahme in Kulanz ist. Vergleichbare Ansprüche sind in Zukunft aus dieser Maßnahme nicht ableitbar.
Darüber hinaus teilen wir Ihnen mit, dass wir Ihrem Antrag auf Satzungsänderung bei den Buchungsregeln vom 17. Februar 2015 nicht entsprechen.
Wir begründen unsere Entscheidung wie folgt:
Eine Buchung erfolgt auf eigenes Risiko. Die Folgen einer Buchung, die auf falschen Tatsachen beruht, und damit den Mangel einer Falschbuchung, hat nicht die Bank zu tragen, sondern die kontoführende Person.
Eine Moderatorin im Radio lädt die Hörerinnen und Hörer ein sich an einer Sendung zu beteiligen. Es gebe dafür verschiedene Möglichkeiten. Eine sei auch, die Seite der Sendung ‚Quarks und Co‘ auf … – jetzt kommen ihr die drei „k“s in ‚Quarks und Co‘ in die Quere – … auf Fake…, hoppla, sie ist schnell, sie bemerkt den Fehler und versucht noch irgendwie die Kurve zu Face zu kriegen, … umsonst … – auf Fakesbook.
Ja, Mehrzahl ist in diesem Fall wirklich besser.
Ich entdecke einen Print-Fehler auf dem Klopapier. Auf einem Blatt ist an zwei Stellen das zarte Rosa des Blumen-Aufdrucks konzentriert verlaufen und bildet zwei kleine farbintensive Schlieren. Ganz klar: Ein Produktionsfehler. Ob man sowas reklamieren kann?
Ich bin die Vorträge leid. Die Powerpoint-Aufzählorgien in Spiegelstrich-Design. Ab und zu, bei den ganz Flotten, flutscht mal eine Serie von Spiegelstrichen von der Seite rein. Kinder!, denke ich oft, gebt mir ein Buch!
Wörterschwärme, die in einen Strudel ziehen.
Und jetzt? Redend dagegen anschwimmen, strampeln, oder schweigend untergehen?
Am Ende bleibt man doch am Leben. Die Flut der Wörter macht leer und leer schwimmt oben.
Warum das viele Reden? Mit Wörtern Wirklichkeit kreieren?
Falls man überhaupt trennen kann: 10% wirkliche Wirklichkeit. 90% gedachte. Warum die vielen Wörter? Weil man sich nicht an die 10% wirkliche Wirklichkeit herantraut? Weil man lieber eine neue Welt erfindet, als die alte anzusehen? Weil man etwas darstellen will?
reden
Zuviel Reden ist in meiner Welt
Zuviel Kleber, der nur klebt, nicht hält
Hysterisches Treiben Leere zu füllen
Mit verbalen Erstickstoffhüllen
Sehnsucht nach Jetzt, Sehnsucht nach Hier
So ist es bei mir und anders bei Dir
Magst Du mir Deines zeigen
Mit einem Lächeln aus Schweigen?
Dann mache ich einen Versuch. Ich präsentiere eine Präsentation ohne Worte. Nur Bilder. Und schweige. Und bin schon nach kurzer Zeit nass geschwitzt ob der Hitze, die von den irritierten Gesichtern ausgeht. Köstliches Schweigen. Es ist ja alles gesagt.
Download
Heute eine etwas längere Strecke. Durch den Wald. Nur wenige einzelne Hundebesitzer begegnen mir. Das letzte Stück zurück führt dann über einen Fahrradweg. Dort eine schöne Szene:
Mir entgegen kommt ein älteres Paar. Die Beiden spazieren nebeneinander.
Und ein Radfahrer weiter hinter ihnen.
Wir alle vier werden an einer bestimmten Stelle auf gleicher Höhe sein.
Wir alle lösen das Problem elegant. Ich weiß nicht, wie wir das machen, aber wir alle vier sind in Kontakt. Bei dem Paar lässt sich der Mann etwas zurückfallen, läuft hinter seiner Frau. Ich laufe etwas langsamer. Der Radfahrer zieht an uns vorbei. Grüße schweben zwischen freundlichen Gesichtern. Ich beschleunige wieder, erweitere meinen Ausweichbogen. Der Mann kann wieder zu seiner Frau aufschließen.
Ein kurzer Moment gemeinsamen Glücks. Ich nehme die drei noch ein Stück des Weges in Gedanken mit. Und lächele. Und denke: So – … ja, lacht mich ruhig aus, ist mir egal … – so, und nur so, geht Frieden.