sechzehn

Anderland

Lange Zeit nannte ich es das „Land des Vergessens“. Als sie dorthin schon unterwegs war, die Grenze aber noch nicht überschritten hatte, sagte sie manchmal ungewollt sehr poetische Dinge. Sie! Die ich so gar nicht poetisch kenne. Die immer skeptisch, oft genug auch verächtlich auf metaphorische Ausdrucksweise reagierte. Die alles für sie unverständlich Gebildete nicht nur ignorierte, sondern aktiv ablehnte. Die immer wieder betonte, sie sei auch zufrieden gewesen, wenn aus ihren Kindern Handwerker geworden wären. Die sogar die Scherenschnitte, die sie selber mit hoher Kunstfertigkeit schnitt, mit einer spröden Sachlichkeit behandelte, als würde sie nicht sehen wollen, dass ja eigentlich auch sie selbst eine Art Kunst machte. Ihr war wichtiger, dass sie manchmal auf einem Weihnachtsbasar für den einen oder anderen Scherenschnitt einen Euro bekam, und dass ab und zu jemand sagte: Ach, Sie machen so schöne Scherenschnitte. Das zitierte sie dann stolz, machte aber nicht den Eindruck, als würde sie das als Kompliment für ihre Gestaltung verstehen.
Und nun also hatte sie auch ihren Widerwillen gegen die Poesie vergessen und sagte z.B.: „Mensch, Martin, mein Kopf ist wie eine Handtasche. Ich tue irgendwas hinein und dann finde ich es nicht wieder.“
Wenn sie so etwas sagte, war ich gerührt und zugleich ein bisschen beschämt, weil ich mich an etwas freute, was ja ihrem beginnenden Verfall geschuldet war.
Dachte ich damals.
Heute, da sie in inmitten dieses Landes lebt, wo ich sie manchmal besuche, manchmal sogar antreffe, zweifle ich, ob all das die richtigen Worte waren: „Land des Vergessens“, „Verfall“. Ob sie nicht viel zu sehr meinen Blick auf ihre Veränderung ausdrücken. Meine Irritation. Mein „Noch nicht“. Als sie noch in ihrer Handtasche gesucht hat nach ihren Gedanken, da wäre Vergessen vielleicht noch das richtige Wort gewesen. Es gab ja noch Reste des Nicht-Vergessens. Heute aber ist die Transformation abgeschlossen. Die Puppenhülle abgestreift.
Heute lebt sie in Anderland.
Es gibt kein Vorher, kein Nachher, kein Weil, kein Oder, kein Wiespät, kein Deinmeinunser, kein Wenn und kein Aber und schon gar kein Wennaber. Nichts von dem, womit unsereins den lieben langen Tag das Denken und Reden ordnet. Es gibt nur ein Jetzt, – eines aber (da ist es schon wieder), von dem ich so gut wie gar nichts weiß. Dieses Jetzt drückt sie, seltener werdend zwar, aber doch immer noch ab und zu sprechend aus. Manchmal verstehe ich sie. Manchmal nicht. Dieses „Pö!“ zum Beispiel, das sie unverhofft sagt, das mit jungmädchenhafter Stimme am Ende nach oben kiekst, verstehe ich nicht. In meiner Wenndannwelt denke ich bisweilen, es sei ein Ausdruck des Trotzes. Stimmt aber nicht. Sie sagt es auch, wenn sie gerade gar nicht trotzt. Aber vielleicht trotzt sie dann woanders in ihrem Anderland. Also doch Trotz? Irgendein Rest von einem Dasein als Kind? Als junges Mädchen? Oder einfach nur Lust auf diesen Klang? Dieses Modellieren der Stimme? Ich weiß es eben nicht.
Es kann auch ein „P-h-o“ sein, das h deutlich getrennt vom P, das o wie bei oft. Die Stimme tief, wie bei einer, die sich auf den Spaten lehnt nach 3 Stunden Umgraben. Doch auch das ist meine Phantasie. Ich weiß nicht, ob sie damit noch Anstrengung ausdrückt oder Erinnerung an Anstrengung, Anstrengung beim Erinnern, das ins Leere läuft, weil es gar kein Erinnern kennt.
Immer dann bin ich zwar bei ihr, treffe sie aber nicht an.
Manchmal aber treffe ich sie an in Anderland.
Ab und zu fängt sie unverhofft an zu zählen. Auf der Suche nach Kontaktmöglichkeiten zu ihr spreche ich dann mit. Immer Zweiergruppen. Meistens fängt es irgendwo bei 12, 13, 14 an. Dreizehn, Vierzehn. Stimme leicht rauf. Es geht ja gleich weiter. Gibt es also doch ein Nachher? Fünfzehn, Sechzehn, Pause, Siebzehn, Achtzehn, – Verstohlen schaue ich mich um, ob jemand mitbekommt, was wir hier gerade machen. Neunzehn, Zwanzig. Plötzlich schießt sie aus Anderland auf mich. „Warum plapperst du mir eigentlich alles nach?“ Ich möchte sagen „ich plapper doch nicht nach, ich plapper mit“, aber das käme aus einer anderen Zeit. Also schweige ich. Und hör ihr zu. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Mit so einem Klang wie Wohlwollen. Als würde sie dem Jungen zusehen, wie er Erdbeeren ins Körbchen sammelt und ihm mit aufmunterndem Mitzählen helfen wollen.
Auch beim Singen treffe ich sie häufig an, wenn ich sie besuche. Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Bei „Klipp Klapp“ steigt sie oft ein. Oder bei „und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar“. Um Weihnachten herum habe ich sie mal gefragt, ob sie eigentlich auch Weihnachtslieder kenne. Natürlich, sagte sie, mit Entrüstung, wie ich so etwas Dummes fragen konnte. Und fing an. „De-her Mai ist gekommen … „. Das ist auch ein schönes Lied, sagte ich und dann: Ich meinte aber (sic!!) so ein richtiges Weihnachtslied. Kennst Du so eins auch? Ja klar. Jungmädchenhaftes nach oben Kieksen der Stimme. Und als Beweis legte sie los: „De-her Mai ist gekommen … “. Ob es der Gleichklang ist von Weih und Mai? Egal, – ich schmetter mit. Und treffe sie an.
Heute wollte ich den Pflegerinnen beim Füttern helfen. Sie öffnet aber den Mund nicht. Ich versuche es mit allen Tricks. Nichts hilft. Reden nutzt schon mal gar nichts. Mach mal den Mund auf. Hm, das ist lecker. Mit dem Stück Marmeladenbrot auf der Gabel leicht ihre Lippen berühren. Mit dem Stück Marmeladenbrot auf der Gabel in einem etwas größeren Bogen, so, dass sie es sieht, auf ihren Mund zubewegen. Mund aufmachen vormachen. Nichts. Plötzlich sagt sie: Du willst mich bloß reinlegen. Erst will ich protestieren. Nein, nein, ich will Dir doch nur beim Essen helfen. (Ich Gutmensch). Aber dann zögere ich, schweige kurz und sage. Ja! Stimmt! Und lache. Und sie lacht mit. Wir schauen uns an beim Lachen. Wieder hab ich sie kurz angetroffen.
Das Happy End könnte jetzt sein, dass ich ihr das Stück Marmeladenbrot schnell in den Mund schiebe, jetzt, wo sie beim Lachen den Mund auf hat.
Kurzes Zögern beim Verarbeiten dieser Idee. Schon ist der Mund wieder zu. Es war auch keine gute Idee.
Das Happy End: Isst sie eben nicht! Pö!

Lichtallergie

(gekürzte Fassung, hier geht es zur längeren Fassung)

Helmut Kohl ist gestorben. Wahrscheinlich bleibt einem Politiker wie jedem anderen Menschen, dessen Leben zu einem großen Teil der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, gar nichts anderes übrig, als sich selbst zur Hauptfigur einer Legende zu machen. Und wahrscheinlich bekommt jeder dieser Menschen auf diesem Weg schnell mediale Vorschläge zu einem klaren Plot, auf dass sich die Legende in wenigen Kernbegriffen verdichtet erzählen lasse. Kanzler der Einheit, – ach ja.
Helmut Kohls Legende muss nun nachjustiert werden. Es steht die Kreation des Schlusskapitels an.
Die dazu notwendigen Kernbegriffe außer „Kanzler der Einheit“ sind schnell definiert. CDU-Grande, stur, charmant, verlässlich, Europäer.
Ein bisschen mehr elegante Eloquenz verlangt das delikate Thema Hannelore und Familie. Man kann ja schlecht sagen, was jeder weiß, und nicht weiß und irgendwie doch weiß: Dass Helmut Kohl sein Leben mit einer anderen Frau geteilt hat als Hannelore. Dass er seine Frau und seine Familie zu Statisten der Legende „treusorgender Familienvater“ degradiert hat. Dass er seine Frau in dem für diese Legende zur Schau gestellten Eigenoggersheim hat vereinsamen, verzweifeln und schließlich sterben lassen.
Legende Kohl. Kapitel Hannelore. Auch diese Herausforderung meistern die Schwadroniermaschinen der Nachruf-Massenproduktion. Kernbegriff: Lichtallergie. Kernbotschaft: Ein Kanzler hat sehr viel und sehr Wichtiges zu tun. Er kann sich nicht auch noch um seine Söhne kümmern. Das hat sie dann aufopferungsvoll getan. Und zusätzlich noch um ihre Stiftung. Sie war nämlich weit mehr als nur die Frau an seiner Seite. Aber dann kam leider diese Lichtallergie.
In diese gut geölte Legendenproduktonsmechanik stolpert hinein: Der Sohn. Er steht mit seinen beiden Kindern vor dem Elternhaus und wird von der, die jetzt hier das Sagen hat, Kohls zweiter Frau, nicht hineingelassen, bekommt sogar Hausverbot, wird von der Polizei sanft weggeführt. Noch am Abend höre ich in journalistischen Kommentaren, dies sei „entwürdigend“ gewesen. Man fragt sich, warum der Sohn sich das angetan habe. Und man ist auch ein bisschen empört, warum der Sohn dieses Schauspiel, diese kleine hässliche Macke dem noch frischen Zierputz am Anbau zur Legende Helmut Kohl zugefügt hat
Dem Sohn wird allen Ernstes entwürdigendes Tun vorgehalten. Für mich war sein Verhalten ein verzweifelter Versuch, gerade eben die zu behalten: Die Würde. Er ist mit einem 50er-Jahre-CDU-Vorzeigefamilien-Papa-mit-Pfeife-an-der-von-der-geliebten-Frau-gespielten-Hammondorgel-Stigma gezeichnet, das ihm bis hinein in seinen Körperbau wahrscheinlich ein Leben lang genau das versucht hat zu nehmen: Die Würde.
Innerlich gratuliere ich ihm. Aber ich bin natürlich parteiisch. Und insofern ungerecht. Für mich ist Kohl der Inbegriff des dumpfen, verlogenen, bigotten Moral-Bürgers, dem ich als junger Mensch kalt, nein – schlimmer – lauwarm leidend ausgeliefert war. Für mich ist er der Vater der „geistig-moralischen Wende“, die nichts anderes bedeutete, als dass alles, was ich mir als wichtig erkämpft hatte, von einem Tag auf den anderen auf den Müll kam. Vorher war ich mal Strauß-bedingt „Ratte“ und „Schmeißfliege“ gewesen. Aber das war ja schon fast eine Ehre, von einem korrupten autoritären polternden rechtsbayerischen Polit-Berserker so genannt zu werden. Jetzt aber versanken meine Ideale im klebrigen Sumpf einer reanimierten Mehlschwitzen-Gesellschaft, die sich anschickte, einladenden Errungenschaften wie Toleranz, soziale Verantwortung, Liberalität, Weltoffenheit und ähnlichem  Sozenschnickschnack den Garaus zu machen. Und: Entschuldigung! Auch „Kanzler der Einheit“ war er für mich nicht. Die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge in Prag, die Öffnung der Grenze von Ungarn nach Österreich, das kopflose Stolpern des DDR-Regimes, die friedliche Klarheit eines Gorbatschows, die verhinderte, dass die DDR-Führung mit Waffen gegen die Montagsdemonstranten vorging. Bei all dem war er für mich nur ein Zaungast, der immer zu dick und zu laut seinen Saumagen-Senf dazugegeben hat, damit er dereinst „Kanzler der Einheit“ genannt werden können möge.
Ja, – ich weiß, all das ist ungerecht und pietätlos. Aber es ist auf den Legenden getünchten Wänden ja auch nur ein Fliegenschiss.
So wie das Verhalten des Sohnes. Und einer, der noch viel kleiner ist als der des Sohnes.
Ihm gebührt mein Respekt. Und mein Mitgefühl. Denn irgendwo in sich wird er trauern. Schließlich ist sein Vater gestorben, und der seines Bruders und der Großvater seiner Kinder.

Heute haben wir ein Lichtobjekt bekommen, das Fabian Thiele kreiert hat.
Atelier NONEON

Zeit No-Neon-Lichtobjekt

Verschwinden

In Zeiten wie diesen
Und solchen
Wie diese es erwarten lassen
Ist es womöglich ein Luxus
Mit dem Tod spurlos
Zu verschwinden
Um liebevoll denen anvertraut zu werden,
Die sich ab und zu erinnern
Möchten.

Trübsal

Trübsal
Nicht mal geblasen
Zuviel Aktivität
Heimlich herbeigenebelt
Dräut sie vor sich hin
Quillt in die Zwischenräume
Zwischen den Synapsen
Dringt in die Hohlräume
Wie Dichtungsschaum
Hält gleißend entfärbte
Gedanken gefangen
In grauen Zellen.

zwischen Zehnvorvier und Viertelnachfünf

Heute im Morgengrauen verlasse ich die Apotheke.
Gestern am späten Nachmittag betrat ich sie. Die Apotheke meines Vertrauens. Ich glaube eigentlich nicht, dass man einer Apotheke vertrauen kann. Aber ich nenne sie so. Es macht so ein Gefühl von zuhause sein.
Wie kann ich helfen, fragt der freundliche Mann.
Ich hätte gern ein rezeptfreies Zäpfchen gegen Zonen zerebraler Zersetzung.
Wieso keine Tropfen?, fragt er, die wären doch näher dran.
Da bin ich gar nicht so sicher, sage ich. Außerdem mag ich es irgendwie, wenn sich die muskulären Wellen des Umschließens eines Fremdkörpers im Unterbauch ausbreiten.
Ja, das verstehe ich, sagt er.
Und ich mag die Alliteration, sage ich.
Ja, da haben sie Recht, sagt er.
Ich weiß gar nicht, womit ich Recht habe, aber es ist trotzdem ein schönes Gefühl, gesagt zu bekommen, dass ich Recht habe.
Und ich hätte gerne etwas gegen Sinnestrübnis. Am liebsten eine Tinktur.
Meinen Sie Sinnes im Sinne von Wahrnehmen wie hören oder fühlen. Oder eher Sinnes im Sinne von Sinn, so wie man sagt `in etwas einen Sinn sehen´.
Beides, sage ich.
Und etwas gegen farblose Gemütsverfärbung.
Also eigentlich ‚Gemütsverblassung‘?, fragt er und spricht weiter: Da kann ich ihnen eine Tinktur empfehlen. Die tragen sie auf die Brustwarzen auf. Sie können sich sofort danach wieder anziehen. Die Tinktur ist farblos, sie zieht schnell ein. Sie macht keine Flecken.
Und schließlich fragt der Apotheker noch: Kennen Sie den Grund für Ihre Verfassung?
Nein.
Bewegung hilft eigentlich immer, rät er, gerade wenn es um Sinn geht.
Hm … , brumme ich ratlos und frage mich, welches wohl die richtige Denkreihenfolge wäre. Erst der mangelnde Entschluss, dann der fehlende Sport? Oder erst der fehlende Sport und daraus resultierend die mangelnde Entschlusskraft.
Ich zögere offenbar zu lange. Der Apotheker rechnet zusammen und bittet um Zahlung.
Ich zahle mit Karte.
Der elektronische Beratungsassistent lässt Zäpfchen und Tinktur in den Ausgabeschacht poltern. Surrend schiebt sich die Quittung aus einem Schlitz.
Gute Besserung, höre ich die erstaunlich natürliche Stimme beim Weggehen.
Im Morgengrauen finde ich die Medikamente nicht. Vielleicht bräuchte ich noch was gegen Schwersichtigkeit bei Nachtende.
Die zerebrale Zersetzung ist eine Mücke. Ich will sie im Flug erwischen. Folge ihr mit beiden Händen in einer Schleife.
Klatsch!
Die Mücke entkommt.
Ich aber kriege die Hände nicht mehr auseinander.