siebenunddreissig

Venezia

I

Gondeln im Morgenlicht

Kanal Venedig

Venedig und ich

Ein langes Dasein hat mir verwinkelte Kanäle und Gassen ins Gemüt und ins Gesicht geschrieben. Du kommst nicht einfach so ans Ziel. Es ist schwierig, die richtigen Wege zu finden. Bevor Du ankommst, musst Du Irrwege gehen. Verlierst die Orientierung. Findest Dinge, die Du gar nicht suchtest. Findest, was Du suchtest, vielleicht doch, aber dann eher zufällig. Hast die Richtung verloren. Glaubst, jetzt wärst Du nahe dran und stehst plötzlich vor einem Kanal. Musst wieder umkehren, einen nächsten Weg gehen. Entdeckst einladende Gefilde, Plätze, Gassen, Häuser, hinter denen sich verwilderte Gärten verstecken. Prachtvolle Palazzi, ebenso wie verwahrloste Hinterhöfe. Übrig geblieben aus einem bewegten Leben. Voller armseligen Reichtums und reicher Armut. Und das im Herbst. Immerhin bin ich fast 70. Vom wuchtigen Sommer gebleichte Blätter halten sich mit schwindender Kraft am Ast des Lebens fest. Glücklich, vorerst weiter aus schorfiger Rinde mit Lebenssaft versorgt zu werden. Dort! Eine Brücke. Bestimmt ist sie der Schlüssel zum Ziel. Und dann lenkt Dich der Weg dahinter wieder in die entgegengesetzte Richtung.

Hier hat das Leben gewildert. Dort hat es Orte hinterlassen, an denen Du bleiben möchtest. Oft beides zugleich. Du versuchst zu verstehen und erkennst dabei, dass Verstehen immer das ist: Ein Versuch.

Viele suchen, was sie schon vorher wussten. Wollen es bestätigt finden. Ein Foto machen. Und verstellen sich dabei gegenseitig den Blick. Und dann doch: Momente von einem Glanz, mit dem all die vergangene Zeit sich selber feiert.

Magisch ist es am sehr frühen Morgen oder bei Nacht. Gerne begleitet von Nieselregen. Dann ist es leichter zu sehen. Zu spüren all diese Geschichten vom Glück und vom Schmerz. Vielleicht liegt es daran, dass dann alles noch verletzlicher ist, noch nicht umhüllt von dem, was wir sein wollen. Oder sollen. Oder müssen. Noch bereit, all das loszulassen, angesichts der Wahrheit, dass das Ende schon in Sicht ist. Zu erkennen, an den Pfützen, die das steigende Wasser in den Kanälen auf den Gehwegen hinterlassen hat. Oder an den Podesten, die den Weg eine Etage höher legen, weil das Wasser das Erdgeschoss schon geschluckt hat. Dann ist Improvisation gefragt. Und die Notwendigkeit, sich von der Fassade zu verabschieden.

Merkwürdig. Erst auf dem Weg zurück in mein Alltagsleben wird mir klar, welch ungeheuer mildernde Umstände mir diese Stadt geschenkt hat. Ich habe zwei Wochen lang kein einziges Auto, kein Motorrad, – ja: nicht einmal ein Fahrrad gesehen. Einen LKW nur manchmal. Stehend auf einem Schiff, das für einen kurzen Moment mitten auf dem Canale di Giudecca die Vaporetti aus dem Weg scheuchte. Alle hier gehen oder schwimmen. Niemand fährt. Selbst das aufgeregte Geschnatter und Gerenne der Abertausenden von Touristen stört nicht so sehr, wie es Autos täten. Wer hier lebt, weiß, wo er seine Einkaufs-Tasche auf Rädern hinter sich herziehen kann, ohne im dickflüssigen Touristen-Menschenbrei steckenzubleiben. Wenn es doch passiert: Ein böser Blick. Vielleicht gar ein Fluchen. Aber beides von kurzer Dauer. Es geht ja doch irgendwie immer alles weiter. Jede Flasche Wasser, die hier am Tag getrunken wird, kommt mit dem Schiff. Und leer geworden verschwindet sie am Abend wieder. Auch per Schiff. Die am Morgen blau. Die am Abend grün. Der Notarzt und die Sanitäter kommen in gelb-roten.

Am Abend sitze ich mit der Liebsten auf einem beinahe zu kleinen und doch gemütlichen Stuhl, nahe am Wasser, das schon manchmal über den Rand schwappend die Zunge ausstreckt nach unseren Füßen. Wir rücken ein Stückchen weiter. Und bleiben. Wir können dem Klang unserer zärtlich aneinander geschubsten Gläser lange nachhorchen.

Wie schön das Leben ist. Für Venedig und mich.

 

Venedig neue Ware kommt

Venedig Wasser schwappt in die Gasse

II

Venezianisches Menuett

Schon gewebt
Haben wir das Leichentuch.

Breiten es aus
Über das Pflaster
Um es zu schützen
Vor uns’ren Schritten.

Venedig Wassertaxi

Venedig Piazza

[Unsere Streifzüge waren wundervoll. Das haben wir zu einem guten Teil auch Paola Longobardi zu verdanken, deren Webseite wir zufällig entdeckt haben. Dort sind u.a. mehrere Spaziergänge durch Venedig beschrieben, die wir alle nachspaziert sind. Oft genug mit langen Abstechern, wenn uns danach war. Man findet diese und  Spaziergänge in anderen Regionen hier: https://paola-longobardi.de/?page_id=8147]

 

 

Der verdoppelte Mord

Ein Mensch, der aus Afghanistan geflüchtet ist, tötet in Aschaffenburg ein kleines Kind und einen Mann.

Die einzig angemessene Reaktion auf dieses schier unfassbar leidvolle Geschehen ist:  – – Stille. Nur sie kann die Größe haben, die Arme zu öffnen, wo kein Trost sein will, – die Größe, sich selbst und seine Interessen bedingungslos hintanzustellen.

Und wenn man unbedingt dennoch etwas dazu sagen muss, wäre die einzig angemessene Form, um Worte ringend, den Tränen nah, den Versuch zu machen, tiefes Mitgefühl zu fassen zu bekommen und zu halten.

Was aber geschieht, ist die Einlassung von Herrn Merz, das Maß sei voll, es dürfe niemand mehr ohne Papier ins Land gelassen werden, ein Kompromiss sei für ihn in einer zukünftigen Regierung in dieser Frage nicht möglich.

Was ebenfalls geschieht, ist, dass Politiker:innen verschiedener Parteien sich genötigt sehen, sich ebenfalls zu äußern. Die meisten auf mehr oder weniger scharfe Art in der von Herrn Merz eingeschlagenen Richtung. Und Politiker:innen der AFD sehen sich eingeladen zur Kooperation, – eine Einladung, die sie gerne annehmen, indem sie sie aussprechen. Die Brandmauer steht lichterloh in Flammen.

Die Opfer aber verdorren dabei zu einem bloßen – hinterrücks willkommenen – Anlass zu selbstherrlicher Rede mit uneinlösbaren politischen Wahlkampf-Heilsversprechen.

Als Menschen müssen sie dabei ein zweites Mal sterben.

 

 

Stockeloquentes Gestammel

Am Anfang hört man in diesem Fernseh-Interview noch konventionelle Politiker-Sprache. Es geht um das Attentat in Solingen.

„Zunächst mal ne schlimme tragödie desweng trauern wir mit den Opfern und beten mit denen die ehm noch auf dem hoffentlichen Weg der Genesung sind und hoffen dass es für die gut ausgeht für die menschen die jetzt so betroffen sind […]“

Man kann diese Eröffnung als vielleicht nicht gerade Trauerfeier-taugliches, aber doch noch irgendwie geordnetes Sprechen verstehen. Dann aber beginnt diese sprachliche Ordnung zu entgleisen.

„[…] ehm es braucht jetzt schon konsequenzen nach dieser tat also eh betroffenheit ist das eine aber `s braucht konsequenzen is ja nicht die erste tat die passiert ist eine reihe von solchen taten desweng glaub ich muss […]“

Und es folgen eine halbe Stunde lang immer wieder weitere solche, – „Sätze“ mag man gar nicht sagen:

„[…] wemma ehrlich seit zwei jahren diskutieren wir mit der bundesregierung auch die länder die auch schon logistisch überfordert sind eh eh mit der mit der aufnahme […]“

„[…] klares bekenntnis nicht nur sagen wir wollen sondern wir machen desweng so schnell wie möglich gesetze zu ändern eh wie g`sagt nach syrien afghanistan abschieben […]“

„[…] zumal frau dröge war das glaub ich die fraktionsfrau dröge die grünen ham beim wahlrecht mit aller gewalt daran gearbeitet grad die grünen warn das besonders die CSU zu killen rauszubringen ist vom verfassungsgericht übrigens genauso wie bei der klimasache beim haushalt vom verfassungsgericht ne ziemlich deutliche klatsche bekommen […]“

„[…] wenn ich des sage diese dieser grüne eh dieses grüne Bayern-Bashing so nenn ichs emal bayern praktisch keine zuschüsse zu gem alles in den norden und westen no way […“]

„[…] und des is sozang die letzte patrone der eh der grünen und also es hilft auch wisnse schaun sie ich glaube schon dass dass er seine kompetenzen und fähigkeiten hat en guter erzähler und und […]“

„[…] so nett die ticket-idee war sie führt dazu dass wir in millionen und abermillionen ich glaub sogar milliarden am ende die ticket-idee bringen […]“

„[…] ja, ich ich wisnse ich hab ich hab zum beispiel ´s thema maut immer gsagt dass da viele fehler passiert sind da hab ich kein problem hab kein problem zu sang wenn fehler ist ohm dass man ihn ansprichst ich hab nur drauf hingewiesen ghabt dass es jeweils steigerungen gab[…]“

Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man es für Reality-TieWie halten. Jenes Format, bei dem die Zuschauer:innen sich des eigenen Niveaus versichern können, indem sie sich schenkelklopfend über die Niveaulosigkeit der anderen amüsieren, derer, die dort wie Zirkus-Exoten vorgeführt werden. Die Dame mit Unterleib.

Doch hier wird in einem seriösen TV-Sender, im ARD, ausführlich ein hochrangiger Politiker interviewt. Markus Söder.

Sein Reden ist in großen Teilen offensichtlich nicht ein Sprechen, das komplexe Zusammenhänge versucht, in einer sprachlichen Ordnung abzubilden, die dieser Komplexität irgendwie gerecht zu werden vermöchte. Es ist eher ein hektisches Rühren in einem dicksuppigen Wortbrei, damit sich Bedeutungsblasen bilden, die beim Rühren platzen und leicht aufnehmbare Bedeutungs-Gerüche freisetzen, die auf direktem quasi olfaktorischem Weg die passenden Areale im Gehirn ansteuern und dort ein Gefühl von Heilung verbreiten. Heilung vom Schmerz über die Kompliziertheit der Welt und ihrer Krisen.

Nun haben wir es hier nicht mit einem bildungsfernen Jugendlichen zu tun, der mit reduzierter Sprache klarkommen muss. Wir haben es zu tun mit einem hochrangigen, erfolgreichen und erfahrenen Politiker, der so viel Einfluss hat und so viel Ansehen genießt, dass er sogar als möglicher Kanzler gehandelt wurde. Bei der Beurteilung von Politiker:innen nach Sympathie und Leistung im Politbarometer im ZDF lag er Ende Dezember 2024 hinter Boris Pistorius und Hendrik Wüst auf Platz 3.

Man kann somit nicht davon ausgehen, dass Markus Söder für eine seriöse öffentliche Sprache nicht die Fähigkeiten hat. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass er dieses sein Sprechen für geeignet hält, seine politische Agenda einem großen Publikum zu vermitteln,

Wenn das so wäre, hieße das: Hier hat sich ein Politiker verabschiedet von der Idee, dass politisches Handeln und die Kommunikation darüber gegenüber und mit den Wähler:innen mit einer konventionellen Vorstellung von Vernunft und von einer diese Vernunft abbildenden Sprache einhergehen sollte. Und damit auch von der Idee, man bräuchte eine dazu geeignete komplexe Sprache.

Wie lange mag es noch dauern, bis ein solcher Politiker tatsächlich der mächtigste Mann in unserem Land werden kann, wie es in den USA geschehen ist? Ist es schon so weit, dass sich jemand, der mit Worten ringt, der Bedeutungen abwägt, der auf der Basis von Recherchen geklärt hat, ob das, was sie oder er sagt und schreibt, auch bei genauerer Überprüfung noch gegenüber der Vernunft standhält, dass also so jemand sich schon allein durch die sprachliche Erkennbarkeit dieses Bemühens verdächtig macht, zu einem abgehobenen und deshalb abzulehnenden Establishment zu gehören, das die Menschen nur täuschen will? Donald Trump gehört unbezweifelbar zum Establishment. Aber er kann es offenbar vertuschen. Mit seiner Sprache. Ist das die Agenda von Herrn Söder in diesem Interview? Seine Sprache ist kein Erklären, kein Entwickeln, kein strukturiertes Darlegen, es ist in großen Teilen eben „nur“ ein stockeloquentes Gestammel.

Aber gut. Vielleicht ist es auch ganz einfach. Nicht des erstaunten Nachdenkens wert. Vielleicht war er einfach nur bekifft. Geht ja jetzt. Auch in der Öffentlichkeit.

VideoZusammenschnitt der zitierten Interview-Stellen

Das komplette Interview findet sich noch bis zum 25.08.2026, 17:59, hier:

https://www.ardmediathek.de/video/bericht-aus-berlin/ard-sommerinterview-markus-soeder/ard/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2JlcmljaHQgYXVzIGJlcmxpbi8yMDI0LTA4LTI1XzE4LTAwLU1FU1o

[Die/der geneigte Zuschauer:in möge sich nicht davon irritieren lassen, dass Herr Söder auf dem Einstiegsbild keinen Bart hat und mutmaßen, dass das Interview älter ist. Im Interview selbst hat er ihn.]

The Right One

Now, before you let your mind hide behind cheap short analyses and pseudo-knowledgeable classification statements, can you please just be deeply sad for a few days – even in public – because you realize: around 70 million individual people have come to the realization on their individual paths in life that a vulgar, lying, vulgarly misogynistic, stupid, uneducated, uninhibitedly egocentric, unimaginably rich old man without even a spark of compassion, someone who doesn’t even have the guts to stand up for himself with casual dignity, that his hair is also getting thinner and greyer over time, that such a man is the right person for the office of President of the United States of America?

Der Richtige

Kann man jetzt bitte, bevor man sein Gemüt sich hinter wohlfeilen Kurzanalysen und scheinwissenden Einordnungsstatements verstecken lässt, mal ein paar Tage – gerne auch öffentlich – einfach nur tieftraurig sein, weil man sich klarmacht: etwa 70 Millionen einzelne Menschen sind auf ihrem je individuellen Lebensweg zu der Erkenntnis gekommen, dass ein pöbelnder, lügender, auf vulgäre Art Frauen verachtender, dummer, ungebildeter, hemmungslos egozentrischer, unvorstellbar reicher, alter Mann ohne auch nur einen Funken Mitgefühl, einer, der nicht einmal den Mumm hat, mit lässiger Würde dazu zu stehen, dass auch sein Haar mit der Zeit lichter und grauer wird, dass ein solcher Mann die für das Präsidentenamt der vereinigten Staaten von Amerika richtige Person ist?

Was mir zu denken gibt

Ich habe nichts mehr zu sagen.
Also auch nichts mehr zu schreiben, zu komponieren, zu singen, zu fotografieren.

Wäre ich ein berühmter Künstler, vielleicht gar ein verstorbener, so hieße es: Er hat (… wahlweise: er hatte, denn ich wäre ja schon tot…) eine Blockade.
Aber das wäre falsch. „Blockade“, – das hieße ja, da wär noch was, es könnte nur nicht hinaus. Für mich aber fühlt es sich an, als wär da gar nichts.
Außer vielleicht ein paar zerbröckelten Altideen. Und ein paar kurz aufscheinenden Leuchtstreifen, die sogleich wieder im Nebel verschwinden. Verglüht, bevor sie heiß wurden.

Also putze ich wie ein Besessener mein Studio. Zutiefst sinnlos, denn ich werde es ja gar nicht mehr brauchen. Mehr gibt mein ehemals kreativer Geist nicht mehr her. Wahrscheinlich nie mehr.

Falls das der Idealzustand eines buddhistischen Daseins ist, – es ist Mist.