Advents-Spaziergang in Anderland
Mir selber glauben
Heute schäme ich mich dafür. Gestern gab ich einer Freundin prunkvolle Ratschläge. Ungefragt. Als wüsste ich mehr vom Leben. Dabei dienten die Ratschläge nur dazu, mir genau das einbilden zu können.
Sie klagte über ihre Unsicherheit beim Besuchen ihres Vaters, der neuerdings in einem Altenheim in der Nähe lebt. Er ist dabei nach Anderland abzuwandern. Sie wisse oft nicht, was sie mit ihm reden oder mit ihm machen könne, denn, „was wir gemacht haben, was wir geredet haben“, das gehe ja alles nicht mehr.
Meine Mutter lebt schon länger in Anderland. Ich sah die Chance mich selbst schon erfahrener zu fühlen und griff zu. Wälzte mich ein bisschen im Hochgefühl der Einbildung, ich hätte gelernt, damit umzugehen. Kann dieses Hochgefühl in den Vordergrund schieben. Vor die Zweifel, – dieselben Zweifel wie ihre.
Es sind Ratschläge, wie: Sie solle mit ihrem Vater Dinge tun, die ihr selbst gefielen. Sich nicht so sehr mit der Frage zu quälen, was denn ihrem Vater guttäte. Oder gar, was er wolle. Denn das könne man ohnehin bei einem Menschen in Anderland gar nicht mehr so genau sagen. Und noch weniger könne man es von ihm erfahren. Am besten wäre, dafür so sorgen, dass es ihr beim Besuchen gut gehe und dann gehe es ihrem Vater auch gut.
Ich rate. Und komme mir wissend vor. Und merke nicht, dass ich auch nur rate, nicht weiß. Und es fällt mir schwer, mit dem Rat-Schlagen auch wieder aufzuhören.
Heute erinnere ich mich auf dem Weg zu meiner Mutter daran. Als würde ich mich selbst von gestern ernst nehmen, beschließe ich, heute danach zu handeln. Ohne großes inneres TamTam. Einfach so.
Wir machen einen langen Spaziergang. Der immer länger wird und immer länger dauert, einfach weil er Spaß macht. Mir Spaß macht. Ich schaue kein einziges Mal auf die Uhr. Wie ich es sonst meist mache. Gucken, ob die Zeit bald um ist. Eine Stunde muss ich schaffen. Ich entdecke alle möglichen Dinge und plapper so vor mich hin. Dabei entdecke ich wieder andere Dinge und plapper wieder so vor mich hin. Vielleicht in ihre Richtung und zugleich wie zu mir selber. Und machmal reagiert sie sogar. Irgendwie.
Ich sehe auf der Wiese im Stadtpark Maulwurfshügel, die wie frisch aufgeworfen aussehen. Ich mache sie darauf aufmerksam. Aber ich weiß nicht, ob sie sie sieht. Ich erzähle, dass ich zu gern mal einen Maulwurf sehen würde, wie er gerade den Kopf aus dem Hügel streckt. Aber heute, sage ich, wird das wohl keiner tun. So kalt, wie es ist. Gut, dass ich eine Mütze aufhabe. „Übrigens“, sage ich, weil es mir gerade so einfällt, „Ich hab mir gestern extra für dich die Glatze rasiert. (Das stimmt nicht, aber in Anderland ist egal, ob etwas stimmt.) Damit sie schön glatt ist. Willst Du mal fühlen?“ Ich nehme die Mütze ab und halte ihr meine Glatze hin. Sie reagiert. Sie fühlt tatsächlich. Sie ist mit einer Intensität zärtlich, wie ich das nie für möglich gehalten hätte. Auch als Kind schon nicht.
Kurz danach entdecke ich am Eingangstor zu einem Schrebergarten einen Schmetterling – guck mal, wie schön diese Farben sind – und eine Klingel. Ich zeige ihr beides. Ich weiß nicht, ob sie es sieht. Ich probiere die Klingel aus. Sie merkt auf.
Was wir alles noch entdecken! Nein, was ich alles entdecke! Und ihr dann zeige. Egal, ob sie es mit Aufmerksamkeit ‚honoriert‘ oder nicht.
Guck mal, da hat ein Vogel Plastikstreifen in sein Nest eingebaut. Sie guckt mich an, ich lache, sie lacht auch. Ich weiß nicht worüber. Vielleicht irgendwie auch über die Plastikstreifen. Es ist nicht wichtig.
Guck mal, da ist auf der Hecke Moos. „Das gibt es bestimmt oft, ist mir aber noch nie aufgefallen. Ist dir sowas schon mal aufgefallen?“, frage ich sie. Nicht, weil ich eine Antwort erwarte. (In Anderland erfüllt sich eine Frage nicht in einer Antwort.)
Ich zupfe ein Moos-Büschelchen ab und reiche es ihr. Vorsichtig befühlt sie es mit spitzen Fingern und gibt es nicht mehr her.
Wir kommen an einer kleinen alten Kirche vorbei. Komm, da gehn wir mal rein. Schau, da oben, an der Orgel, da habe ich Orgel-Spielen gelernt.
Und da unten in den Beichstuhl bin ich auch regelmäßig gegangen. Dann hat man sich hier so hingekniet (ich mache es ihr vor) und dann hat man durch ein Gitter durch dem Pastor gesagt, was man für Sünden begangen hat. Zum Glück musste man das nicht so ganz genau sagen. Es reichte, wenn man sagte: Ich war unkeusch. Jedenfalls bei mir.
Ich beichte meiner Mutter, dass ich manchmal Sachen gebeichtet habe, die ich gar nicht gesündigt hatte. Einfach um was zu sagen. Ich hatte gar nicht das Gefühl, in den letzten Wochen gesündigt zu haben. Aber ich wusste, dass man immer irgendwie sündigt. Und das Gefühl, Sünden vergeben zu bekommen, war schön. Egal, ob man sie begangen hatte. Bei der Erinnerung lache ich sie an. Sie schaut skeptisch. Als würde sie überlegen, ob ich sie veräpple.
Draußen stehen mehrere große Tannenbäume auf einem kleinen Platz. Alle sind weihnachtlich geschmückt. An einem hängen große Kugeln, in denen man sich spiegeln kann.
Ich bin davon total fasziniert. Sie schaut teilnahmslos zu, wie ich uns fotografiere. So teilnahmslos, dass ich mir nicht einmal einbilden kann, sie wäre kurz mal rübergekommen aus Anderland.
Also wandern wir weiter.
Ich überwinde meine Scheu – immerhin sind wir öffentlich – und fange an „Oh Tannenbaum“ zu singen. Natürlich mit gedämpfter Lautstärke.
Doch, – ich hab so meine Tricks. Ich bin gespannt, ob er auch heute wieder funktioniert.
„Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie grün – ich werde auf sehr energische Art langsamer – sind deine – noch langsamer, Augenbrauen hoch, Blick in ihr Gesicht, aufforderndes Zeichen – Warten. Irgendwas geht in ihren Gesichtsmuskeln vor sich. Als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben habe, kommt es doch: Tonlos brabbelt sie „… Blätter“ vor sich hin.
Den Rest der ersten Strophe singen wir zusammen.
Ich so leise, dass ich sie hören kann.