Montag II
Schnee von heute
Frage
Und könnte ich so
Wie auf diesen Rest
Vom wilden Schneeweh’n
Auch auf mich selber seh’n:
Selbst im Vergeh’n
Noch schön?
Schnee von heute
Und könnte ich so
Wie auf diesen Rest
Vom wilden Schneeweh’n
Auch auf mich selber seh’n:
Selbst im Vergeh’n
Noch schön?
Das große Schmilzen hat begonnen.
Die „Nur-mal-eben-zum-Kompost-Gartenschlappen“ tauchen wieder auf.
Aufbruch. Die Liebste scharrt schon mit den Füßen. Einen Moment muss sie sich einfach noch gedulden. Ich will unbedingt ein Foto machen. Eines, das vielleicht – so denke ich – bald nicht mehr möglich ist.
Die wunderbar gleichmäßig geformte Lasche aus Schnee, die sich in sanfter Biegung über die Regenrinne wölbt, hat in größerem Abstand schon den einen oder anderen Schmelzwassertropfen aus ihrer tiefsten Stelle entlassen. Ich träume von einem Foto, dass genau so einen Tropfen einfängt, überdacht von dieser gleißend weißen Schnee-Wölbung.
Ich eile hinaus. Und tatsächlich! Es gelingt mir. Es ist gar nicht einfach, sich an den langsamen Tropfrhythmus zu gewöhnen, sich einzuschwingen in ihn und dann den Auslöser in genau dem Moment durchzudrücken, in dem der Tropfen noch am Schnee hängt, sich aber gleich auf den Weg machen wird, so dass er ins Bild kommt, wenn der Auslöser mit kleiner Verzögerung den Weg des Lichts zum Sensor freigibt. Mindestens drei oder vier Fotos gelingen mir. Das Glück wird perfekt abgerundet: Unmittelbar nach dem Moment, in dem ich denke: „Ok. Das war’s. Ich hab’s.“, bröckelt mit einem sehr leise knirschenden Zischen ein Teil der perfekten Laschen-Wölbung ab. Das Kunstwerk ist dahin. Aber das Foto im Kasten.
Als wir wieder zurück sind, kann ich es gar nicht abwarten, mir die Fotos auf dem großen Bildschirm anzusehen. Ich öffne die kleine Kappe vor dem Fotokartenfach an der Kamera. Und mir wird heiß. Sie enthält keine Karte. Im selben Moment fällt mir ein: Die Karte steckt noch im Laptop. Vom letzten Bilder-Überspielen. Es gibt kein Traum-Foto.
Mit traurigem Trotz gehe ich raus und schau mir die Stelle an. Mache ein Tropfen-Foto mit abgebröckeltem Kunstwerk.
Nun gibt es ein weiteres Fotos, an das ich mich bis ins Detail erinnere. Gerade weil es nicht existiert.
Na, das wird mir ja ein lustiges Winterfreuden-Spektakel gewesen sein heute Morgen.
Da wurde offenbar in geselliger Runde beieinander gestanden, getrunken, geschlindert, gerodelt.
Wahrscheinlich ohne Masken und Abstand.
Wenn das mal bloß kein Vogelgrippen-Superspreading-Event war.
Karl, der Kauz, und Lothar, die Lerche, warnen schon.
Leugnen zwecklos. Es gibt einen Zeugen
Aber es wird nichts nutzen. Die Vogel-Party-Scouts haben schon einen neuen Tatort entdeckt.
Es wurden immer mehr. Sie standen dicht gedrängt um ihn herum. Immer wieder zirpten und flatterten sie sich die Aufregung aus dem Leib. Er sprach mit solcher Inbrunst, solch ernster, wissender Hingabe. Er wirkte nicht wie einer von den denen, die sich auf wahnhafte Art erleuchtet gebärden. So viele hatten sie schon erlebt.
Nein, er wusste wirklich. Sie beruhigten sich. Sie wurden Zeugen tiefer, schauender Erkenntnis. Und glaubten ihm.
„Ich habe ihn gesehen. Mit eigenen Augen. Er ist der Messias. Er ist über’s Wasser gegangen.“
„Hau ab!“, fauchte der Wind, „das ist mein Revier.“
Am Morgen sieht der flauschig weiche Überzug über die Welt noch ganz lauschig aus.
Dann aber will der Winter mehr. Er stürmt herein. Wie wütend wummert wilder Wind auf- und abbrausend um die Ecken, das Dach, die Fenster.
Als Winter-entwöhntes westfälisches Weichei stehe ich hinter der Scheibe und weiß nicht, ob ich mich gruseln, glotzen oder einfach genießen soll.
Also mache ich alles gleichzeitig.
Wir brauchen eine Weile, bis wir begreifen, dass wir ja raus müssen. Schnee schaufeln. Maximale Antikälte-Ausrüstung und los. Dreimal fangen wir wieder von vorne an, bis wir auch das begreifen: Wir können nicht dagegen anschaufeln. Wenn wir hinten angekommen sind, ist vorne wieder alles voll. Wir sollten einfach nachgeben.
Am Nachmittag starte ich einen Versuch, ob ich das Auto aus der Einfahrt bekomme. Ziemlich idiotisch, das Unterfangen. Nur weil ich morgen einen Inspektionstermin habe. Der Laden muss ja laufen. Nachbarn helfen. Beim zweiten Mal Festfahren bäumt sich bei ihnen Ehrgeiz auf. Jetzt nicht aufgeben. Bei mir bäumt sich nichts auf. Ich freue mich über die Hilfe und finde zugleich absurd, was wir tun. Und mir ist kalt. Außerdem habe ich schon Nachgebe-Erfahrung. Ein schönes Gefühl. Deshalb: Rückzug.
Jetzt begnüge ich mich mit Rausschauen. Nach jeder neuen Stunde sieht die Welt anders aus. Und wirkt stiller und stiller. Und das, obwohl das Wüten des Windes zunimmt.