… Heute wiedergefunden … vergessen zu veröffentlichen … wäre doch zu schade …
Bild beweist:
Calvin Klein ist für’n Arsch.
Heimat der Katzen. Auch derer, die sich selbst in den Schwanz beißen.
Die Vermieterin unserer Wohnung zeigt auf den großen brauenen Tank im Garten. Und auf einen Schalter. Sie erklärt, was wir machen müssen. Manchmal stelle die Stadt am Abend das Wasser ab. Bei Wasserknappheit. Dabei eine aus dem Handgelenk wedelnde Bewegung und ein passender Gesichtsausdruck. Beides ist eigentlich immer dabei, wenn man über die Verwaltung oder das Finanzamt oder andere offizielle Stellen spricht. Wie auch immer, …, wenn das Wasser abgestellt sei, sollen wir hier den Schalter drücken, dann bekommen wir das Wasser aus dem Tank. Am nächsten Morgen dann bitte wieder umstellen.
Im Dorf finden sich überall solche Tanks.
Diese Tanks füllen sich, wenn das Wasser gerade nicht abgestellt ist.
Mein Synapsen funken: Je mehr Leute tagsüber Wassertanks mit dem nicht abgestellten Wasser füllen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass am Abend … Na ja, wollen wir mal nicht pingelig werden. Sonst reden sie über mich auch mit der entsprechenden Handbewegung und dem passenden Gesichtsausdruck.
Auf der urwaldähnlichen Fläche am Rand eines an den Felsen gebauten Bergdorfes in Kalabrien:
Indische Prunkwinde, Ipomoea Indica.
Eine echte Schönheit.
Die auch ein echtes Luder sein kann: Ihre Samen sind giftig, und wenn sie sich ausbreitet, macht sie anderen Pflanzen vielleicht den Garaus. Richtiges Leben eben.
„Wie schön das hier ist“, denke ich, als ich am frühen Morgen, noch schlafnebelig, aus dem Fenster schaue, „ganz einfach schön.“ Gerade ist die Sonne über die waldigen Hügel gegenüber gekrochen. Ihr Licht reicht schon, um dem Ocker der rau verputzten alten Hauswände rechts und links neben mir einen orange-gelben Schimmer zu geben. Dem Blau darüber eine zufriedene Tiefe.
Hinter mir röchelt das kleine, schwere Stahlkännchen auf dem Gasherd.
Es duftet. Die schwarze Kammerflimmer-Brühe ist fertig. Einen Moment warte ich noch. Genau einen Moment zu lang. Als ich mich umdrehe, hat das Kännchen schon einen Teil des ohnehin spärlichen Espressos neben die Flamme gespuckt. „Ich werde den Umgang mit diesen Geräten nie lernen“, denke ich ein wenig ärgerlich. Und konzentriere mich. Denn ich weiß, dass jetzt auch noch droht, sich an dem Kännchen die Finger zu verbrennen.
„Ja“, denke ich, als ich mit dem ersten Kaffee in der Hand am Geländer der hoch gelegenen kleinen Terrasse den Schwalben zuschaue. Mich daran freue, wie sie irrwitzige Flugfiguren in die Luft federn. Manchmal, wenn sie sich plötzlich seitlich drehen, lässt die Morgensonne ihre weißen Bäuche aufblitzen. Das Haus, in dem unsere Wohnung ist, hängt am Fels. Eng geschmiegt an weitere kleine und größere Häuser neben über und unter ihm. Die Adern dazwischen: stufige Gassen. Der Luftraum zum Tal hin: Das Eldorado der Schwalben. Ebenso die kleinen Hohlräume in den Außenwänden. Die großen waren einmal Fenster. Von Zimmern, von Häusern, die dann verlassen wurden. Einmal schießt nah vor mir plötzlich eine Schwalbe von unten hoch. Etwa auf meiner Höhe legt sie die Flügel an und schaut unbewegt in eine Richtung. In meine? Kurz bevor ihr Steigen sich wieder in ein Fallen umkehrt, geht ein Ruck durch ihren Körper und sie flattert aufwärts und davon. „Ja“, denke ich, „fangt nur fleißig Mücken! Auf dass ich weniger zerstochen werde. Aber lasst mir bloß die hübschen Schmetterlinge leben!“
Und die Bienen! Die Wespen? Die Motten?
Ich hole die zweite Portion Espresso aus dem Kännchen. Es steht auf einem kleinen zweiflammigen Gasherd neben der Spüle, eingelassen in eine kleine, gekachelte Arbeitsfläche unter einem spärlich beladenen kleinen Regal neben einer Holzkonstruktion, an der einzelne Utensilien hängen.
Eine Schere, ein Korkenzieher, ein Schneid-Brett, eine Pfanne, ein Topflappen, ein … – was macht der denn hier? … Nussknacker. Meine Weihnachtsirritation verstellt mir ein Weilchen den Blick darauf, dass dies hier nicht immer eine sommerliche Urlaubsbleibe war. Hier haben Menschen ihr Alltagsleben gelebt. Mit genau dieser Holzkonstruktion und genau diesem Regalbrett. Und Weihnachten gefeiert. Und Nüsse auch zu anderen Jahreszeiten geknackt. Romantisches Seufzen innerlich. „Wie wenig man braucht!“
Unsere Urlaubswohnung gehört zu einem „Albergo diffuso“. In ganz Italien gibt es an verschiedenen Orten den Versuch, sterbende Dörfer wiederzubeleben, indem aus den verlassenen Häusern und Wohnungen Hotel-Unterkünfte werden, die sich – nur kleine Gassenwege voneinander entfernt – um ihr Zentrum schmiegen: Das Häuschen vielleicht, das als erstes restauriert wurde. Mit ein paar Souvenirs, einer „Empfangs“-Theke, vielleicht ein paar regionalen Lebensmitteln, vielleicht ein paar Karten und Info-Materialien. Davor in unserem Fall auch eine Piazzetta mit zwei, drei Tischen, an denen man ein kleines Frühstück einnehmen kann. Man ist ja im Hotel. Mit selbst gemachten, gesunden Lebensmitteln. Hier führt über die Piazzetta auch noch eine ausgefallene Brücke, die die Form eines Bootes nachahmt. Sie führt zu einer Dachterrasse mit atemberaubendem Ausblick, auf der man am Abend ein köstliches mehrgängiges Abendessen einnehmen kann.
Multipler Genuss: Die Häuser, die Gassen, die Speisen, der Wein, die Blicke, die Ruhe, die herzliche Innigkeit der „Macher: innen“ von all dem hier.
Die Idylle hier ist auch beim zweiten Blick noch perfekt. Die Menschen, die das hier restauriert haben, haben, wann immer möglich, mit den Materialien gearbeitet, die hier waren. Haben alte Böden freigelegt. Haben Kacheln aus dem Schutt geklaubt. Zusammengepuzzelt. Alte Regalbretter auch. Oder aus altem Holz neue gebaut. Gefundenes reanimiert und/oder neu arrangiert. Mit alten, wiederbelebten und jetzt neu wieder gelernten Handwerkstechniken z.B. einen ziemlich ramponierten alten Pizza-Holzfeuer-Ofen restauriert. Oder die Treppe in ‚unserer‘ Wohnung.
Und so sorgsam und nachhaltig, wie sie mit den alten Materialien umgehen, gehen sie auch mit den Lebensmitteln um. Da werden alte Getreidesorten wiederbelebt. Da wird mit den Händen aus eben diesem Getreide Pasta gemacht. Da wird die kalabrische Tomate selbst angebaut, das Olivenöl selbst hergestellt, der Wein, die marmellata. Die Menschen, die das hier erarbeiten haben, erzählen von all dem. Und man spürt die unendlichen Mühen, die es gekostet hat, ebenso, wie die Freude über jedes Gelingen.
„Wie nett die Menschen hier sind“, denke ich auch, als ich auf der Treppen-Gasse vor unserer Wohnung mit zwei älteren Frauen und einer jüngeren ins Gespräch komme, staunend beäugt von den drei Jungs, die sie im Schlepptau haben. Sie bitten mich, ein Gruppen-Foto von ihnen allen zu machen. „Cheaeaease!“ rufen sie und lachen. Anschließend plaudern wir. Es stellt sich heraus: Die zwei Älteren sind Schwestern und lebende Zeuginnen des Dramas, das sich in diesem Dorf abgespielt hat. Sie erzählen, wie furchtbar es für sie als 9- bzw. 14-jährige war, hier wegzuziehen und in die USA auszuwandern. Dass ihre Eltern ihnen immer wieder erklärt hätten, dass es keine andere Möglichkeit gegeben hätte. Dass sie es aber nicht hätten glauben wollen und können. Es sei eine tränenreiche Zeit gewesen. Bei ihren Erzählungen streicht ihr Blick liebevoll die Gassen und sich windenden Stufenwege entlang, rechts und links hinauf und hinunter. An den restaurierten Häuserfassaden entlang und genauso an den verfallenden. Alte Zeiten lassen ihre Wangen sich röten. Und lassen sie lachen, als ihnen klar wird, dass sie heute die Stufen und Gassen eher meiden – die Gelenke, you know?! Kicher, kicher! Wir winden uns zwischen zwei Sprachen, wie die Gassen durch die Häuser. Wörter wie brüchige Decken oder Wände. Oder gleich ganz fehlende. Verschlossene Türen, die sich in der anderen Sprache dann doch öffnen. Oder auch nicht.
Eines Morgens, als die Chefin frische Handtücher bringt, spricht sie mich an. Sie habe gehört, ich wollte über das Dorf schreiben. So schnell verbreitet sich also der Gassen-Funk! Die Damen, die ich fotografiert hätte, hätten es ihr erzählt. Sie wolle mir im Auftrag ihres Mannes und ihres Schwagers sagen, dass diese nicht wünschten, dass sie im selben Atemzug genannt würden mit anderen Menschen in dem Dorf, z.B. dem Verwandten, bei dem die Besucher aus den USA jetzt wohnten. Und schon gar nicht mit den wenigen hier noch dauerhaft lebenden Menschen. Man habe bei seinem Projekt keinerlei Unterstützung von den „Ureinwohner: innen“ erhalten. Im Gegenteil. Man sei auch noch belächelt oder gar angefeindet worden. Als sie wieder geht, bleiben wir fragend zurück.
Nach ihrem Auftritt streifen wir anders hier herum. Unser Blick hat sich verändert. Wir sehen noch immer die hübsche, auch derbe, Lauschigkeit der wiederbelebten Teile eines Dörfchens, das einmal als Ganzes belebt war. Aber wir sehen deutlich aufmerksamer ebenso die Wunden, die das Verlassen in die Wohnstätten und in ganze Viertel gebrochen hat. Sehen Verfall. Bruch. Dreck. Verwahrlosung.
Ich fotografiere auch das. Eine Spur zu aufgeregt. Was ich aber erst merke, als ich das Seufzen einer kitschigen „Lost-Place“-Schmonzette im Objektiv höre. Wir sehen auch Häuser, die noch bewohnt sind, aber eben nicht idyllisch restauriert. Sondern mühsam irgendwie bewohnbar gehalten. Die Alu-Haustür z.B., die die schöne alte Haustür abgelöst hat, als die wurmzerfressen war. Und deutlich weniger Pflege braucht. Und leichter reparierbar ist. Wir sehen notdürftig Abgedichtetes, Überdachtes, Geflicktes. Provisorisch Repariertes. Wir schauen an einer alten, nicht aufgehübschten Fassade hoch und sehen gerade noch einen Kopf aus einem Plastik-Fensterrahmen ins Dunkel dahinter verschwinden. Wir registrieren, dass, wenn wir überhaupt jemandem begegnen – meist sehr gebeugt gehenden älteren Menschen – unser vielleicht etwas zu leutselig geflöteter Gruß oft nicht erwidert wird. Wir lernen, dass das in Ordnung ist. Lernen, respektvoller zu grüßen. Und auch respektvoll nicht zu grüßen. Wir werden leiser. Ich fotografiere sogar leiser. Zunehmend gar nicht.
Wie immer, wenn wir irgendwo im Urlaub länger sind, haben wir eine Stammbar. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass ‚unsere‘ Stammbar hier genau in der Schnittstelle liegt zwischen dem alten Teil des Dorfes und dem neueren. Die Männer, die vor der Bar auf alten Plastik-Stühlen mit kleinen Schlucken Bier und möglichst wenig Bewegung versuchen, dem Gefühl zu entgehen, in der Hitze selbst auch geschmolzen zu werden: Auch sie erwidern unser Grüßen eher nicht. Selbst der Hund, der hier zum Stamm gehört, interessiert sich nicht für uns. Er gehört allen, werden wir aufgeklärt. Und alle haben ihn „Presidente“ genannt. Also nennen auch wir ihn so. Ein einziges Mal lässt er sich von mir streicheln. Kurz zuvor musste er erleben, wie ein Pinscher-Baby auf dem tätowierten Arm seines Besitzers der männlichen Besatzung der Bar ein zärtliches, beschützendes Betätscheln und Beschwärmen entlockt hat, wie er es wahrscheinlich nie erlebt hat, und wie man es von den Kerlen nun wirklich nicht erwartet hätte. Er guckt zwischen den Männern immer wieder hoch und bellt. Und wird ignoriert. Irgendwann gibt er auf und legt sich auf einen Stuhl. Meine Chance.
‚Unsere‘ Bar. Hier sitzen wir regelmäßig. Und immer wieder fangen wir von vorne an, über all das hier zu reden. Über die merkwürdige Schönheit von all dem hier. Die einen anlockt und zugleich wegschubst. Die einen verführt und verstört. Unsere Gespräche verirren sich immer wieder in den Gedankengassen sich garstig widersprechender Überlegungen. Wohnen wir hier gerade inmitten der Gentrifizierung zwei Punkt Null? Restaurierte Armut als Geschäftsmodell? Für wohlhabende Urlauber: innen wie uns? Die ihr schlechtes Gewissen, dass sie hierher geflogen sind, jetzt mit einer ordentlichen Portion Nachhaltigkeit mildern? Oder ist es einfach nur gut, dass für dieses „Hotel“ eben nicht alles neu angeschafft wurde? Was denken wohl die Menschen in unserer Stammbar in der Schnittstelle über ‚unsere‘ Idylle? Finden sie sie albern? ‚Wieso ziehen die im Urlaub in diese Bruchbuden?‘ Finden sie, dass die Hoteliers sich das Zentrum des Dorfes günstig untern Nagel gerissen haben? Dass sie es jetzt nutzen, um sich zu bereichern mit dem Geld spinnerter Öko-Touristen? Der Chef, der uns bei einer gemütlichen „Wir-machen-Pasta-von-Hand-Abendveranstaltung“ mit Hingabe die besondere ursprüngliche Getreidesorte „Senatore Capelli“ erklärt, fährt einen ziemlich wuchtigen, aus 6 Zylindern arrogant fauchenden SUV. Beneiden sie ihn? Und die Menschen, die in ‚unserem‘ Albergo arbeiten: Leben sie in einem der restaurierten Häuser? Nehmen sie die Unbequemlichkeit des wiederbelebten Alten in Kauf? Oder leben sie eher in einem der zwar alten, aber doch irgendwie notdürftig auf dem Stand der Technik gehaltenen anderen Häuser? Oder gleich in einem der neueren, die hier bei der Bar beginnen, und die zu bewohnen, zu heizen, zu putzen deutlich weniger Aufwand bedeutet? Und wenn sich all das hier weiterentwickelt haben wird zu einem Erfolgsmodell, werden sie dann überhaupt hier noch wohnen können? Wenn sich durch die Wiederbelebtheit und die sich ausbreitende „Armuts-Idylle“ die Immobilienpreise so in die Höhe geschraubt haben, dass sie für Menschen, die kellnern, nicht mehr bezahlbar sind?
Die ganze widersprüchliche Vielschichtigkeit verdichtet sich in dem stilisierten Emblem, mit dem der Albergo Diffuso hier wirbt. Darauf die zwei kleinen Felsen-Inseln unten im Meer, das Meer selbst und eine auf halbem Weg zwischen dem Dorf oben im Berg und dem neueren Häuserhaufen unten am Meer stolz sich in den Azurhimmel reckende Säule mit einem großen Kreuz obendrauf.
Sie wird von einer breiten Zufahrt und von liebevoll gepflegtem Park-Gelände geehrt. Tagelang ist es für uns einfach eben ein Kreuz. Zu Ehren irgendeines Heiligen. Oder Marias, der Schutzpatronin der Fischer. Erst nach Tagen schauen wir genauer hin und stellen fest: Es ist ein Monument zu Ehren eines berühmten Mannes, der in ‚unserem‘ Dorf geboren wurde. Er erlangte zweifelhaften Ruhm als einer der Hauptarchitekten des Machtapparates von Mussolini. Die Erkenntnis erschreckt uns. Und zugleich rührt uns beinah die für uns unvorstellbare irgendwie unschuldig anmutende Ungebrochenheit, mit der das Monument ein inniges Bemühen um Nachhaltigkeit und ökologisch verantwortliche Dorf-Entwicklung begleitet.
Die Liebste und ich erkunden den Lungomare. Hier führt er recht weit oberhalb an der Felsenküste entlang. Wir entdecken ein Schild. Es weist auf einen Brunnen hin. Wir schauen uns um. Zu sehen ist nur eine Mischung aus Treppe und Weg abwärts. Ein Brunnen nicht. Er wird wohl irgendwo da unten um die Ecke sein.
Wir stapfen hinab, kommen um die Ecke, sehen den Brunnen und lachen. So spektakulär, wie man es nach dem Schild erwarten würde, ist er nun gerade nicht.
Im Hintergrund ein kleiner Marienaltar im Felsen. Teil davon ist ein Gebet. Es bittet Maria, die Fischer zu beschützen.
Mein Blick fällt auf die Gischt-umspülten Felsen links daneben. Da ist etwas, das da nicht hingehört. Irgendwie. Ich gehe näher heran, kann es aber immer noch nicht identifizieren. Merkwürdig. Wie aus einer anderen Welt. Ich gehe noch näher und erkenne, was es ist: Ein Spielzeug. In meiner späteren Erinnerung ist es ein kleiner grüner Trecker. Drei, vier Zentimeter groß. Er hat gelbe Räder. Eines ist seitlich abgeknickt. Trotzdem scheint er mir noch fahrtüchtig. Aber er liegt da nicht einfach rum. Angespült. Er thront wie mit großer Sorgfalt aufgestellt mitten auf einem Großkiesel-Sockel. Ich stelle mir einen kleinen Jungen vor. (Natürlich einen Jungen!) Er balanciert zwischen den Felsen, immer in der Gefahr, nass zu werden. In seiner Hand der Trecker. Auf der Suche nach einem geeigneten Stein. Er findet ihn. Und drapiert das Gefährt auf der Mitte der Kuppe. Wie schön es aussieht. Fast ein bisschen stolz. Ein Kunstwerk.
Die Mutter ruft. Sie hat Aufregung in der Stimme. Der Junge muss sofort reagieren. Er will nicht, dass sie Angst hat. Er will aber auch nicht, dass sie sieht, in welch gefährlichen Gefilden er hier herumklettert. Also kraxelt er hoch. Sieht sie. Sie ihn. Sie nehmen sich in den Arm. Sie greift seine Hand. „Komm“, sagt sie, „Papa wartet.“
Die Liebste und ich steigen den „Brunnenweg“ wieder hinauf. Ich nehme mir vor, das Trecker-Kunstwerk morgen zu fotografieren.
Leider zieht sich der Himmel bedrohlich zu. Hoffentlich ist das nur ein harmloser Schauer.
Ist es nicht. Es ist ein ausgewachsenes stürmisches Unwetter. Mehrmals müssen wir im Restaurant den Tisch tiefer unter die Markise ziehen, weil der peitschende Regen unter das Dach geweht wird. Schließlich geben wir auf und ziehen um. „Dall‘ inferno all‘ interno“. Fast zu spät.
Am nächsten Morgen mache ich mich, ausgerüstet mit meinem Fotoapparat, auf den Weg zum Treckerkunstwerk. Nicht besonders zuversichtlich, dass es noch da ist. Im Gegenteil: Ich bin ziemlich sicher, dass der Trecker mindestens vom Sturm weggefegt wurde. Oder von schäumenden Wellen weggespült. Oder beides. Und hoffe trotzdem.
Ich komme um die Ecke, missachte Brunnen und Marienaltar, und sehe schon von Weitem: Der Trecker ist weg. Alles, wie man es erwarten würde. Nichts, was da nicht hingehört. Nichts aus einer anderen Welt. Nur Felsen, die vom inzwischen wieder beruhigten Meer umspült werden.
Fast erstaunt es mich, wie traurig es mich macht.
Ich stehe da und fange an, mich abzufinden.
Dann eine Idee. Der Wind kam seewärts. Die Wellen stoben zum Ufer. Kann dann nicht eigentlich der Trecker nur irgendwo hier zwischen den Steinen liegen? Er wird doch wohl kaum hinaus auf’s Meer getragen worden sein! Hoffnung keimt auf. Von hier oben sehe ich nichts. Ich muss runter und fange fast gleichzeitig mit dem Gedanken wackelig zu klettern an. Dann besinne ich mich zum Glück. Erst mal den Mann sichern. Dann die Kamera. Konzentriert und langsam balanciere ich. Bleibe stehen. Suche die Zwischenräume ab zwischen den Riesenkieseln um mich herum. Balanciere weiter. Schiebe den Blick wieder nach unten.
Und dann sehe ich ihn. Tatsächlich. Er ist zwischen zwei Felsen gerutscht. Hier hat er den Sturm gut überstanden. Ich schüttele den Kopf und schnaufe ein Lächeln durch die Nase. ‚Mein‘ Trecker ist kein Trecker. Es ist ein Rennwagen. Und er ist nicht grün, sondern lila. Aber es ist ‚mein Trecker‘. Die Räder sind gelb und eines ist seitlich weggeknickt.
Zwei, drei tief gebeugte Extra-Schritte, dann habe ich ihn. Mit der Hingabe des kleinen Jungen drappiere ich ihn wieder auf ‚seinem‘ Felsen. Klettere sogar zweimal wieder hoch, um zu schauen, ob er auch genau da steht, wo er gestern stand. In meiner Erinnerung.
Als ich wieder gehe, strahle ich innerlich. Glücklich darüber, die kleine Trecker-Rennwagen-Skulptur wiederhergestellt haben zu können. Glücklich darüber, mich sinnlosem Tun von größter Bedeutung hingegeben zu haben. Ich mache mich auf den Rückweg. Schnell möchte ich mein Abenteuerchen der Liebsten erzählen.
Heute wird unser Freund Bruno beerdigt.
Wir können nicht dabei sein.
Also wollen wir unsere eigene kleine Trauerfeier für ihn begehen. Zeitgleich mit der zuhause.
In flirrender Hitze gehen wir zu einem Friedhof. Wir möchten diese Atmosphäre. Und hoffen auf eine Bank im Schatten oder eine kühle Kapelle. Wir betreten den Friedhof. Umhüllt von trauriger Schwere. Unser Blick fällt auf eine Familien-Grabstätte.
Unmittelbar hören wir beide Brunos liebenswert keckerndes Lachen. In die Runde geworfen mit einem Spruch. Vielleicht wäre es dieser: Da hat’s der Zufall, dieser Halunke, ja wieder mal besonders kitschig inszeniert. Und nur für mich!
Wir finden keine Bank und keine Kapelle. Also setzen wir uns auf eine Stufe vor einer Privat-Kapelle, die hoch genug ist, um Schatten zu spenden. Wir hören die Musik, die seine Frau und sein Sohn für die Trauerfeier ausgesucht haben. Wir schauen auf ein Foto von ihm. Wir halten uns bei den Händen.
Unsere Tränen stauen sich heiß hinter den Augen. Sie wollen nicht hinaus. Als hätten sie Angst, in der Hitze des kalabrischen Sommers ungeweint zu verdampfen. Auch sie ist gestaut. Vor dem ausbleibenden Regen.
Noch lange nach der verklungenen Musik sitzen wir schweigend da. Dann – wie auf eine insgeheime Verabredung hin – stehen wir wortlos auf und schreiten vorsichtig über die Anlage. Erst jetzt finden wir eine öffentliche Kapelle und fantasieren, Bruno hätte uns absichtlich anfangs daran vorbeigelotst. Sie wäre ihm vielleicht zu katholisch gewesen. Vielleicht wollte er uns auch augenzwinkernd die kleine Unbequemlichkeit auf der Stufe zumuten.
Und auch beim Verlassen der Anlage hören wir einen flapsigen Spruch von ihm:
„Fertigstellung bei Einzug.“
An seinen Humor zu denken, ist kein Trost. Es ist die Begleitmusik zu unserer Trauer. Und umgekehrt. Einfach so. Nebeneinander. Auch auf dem langen Rückweg. Als wir uns Situationen mit ihm erzählen, an die wir uns erinnern. Heitere und ernste.