- 37. Kapitel
- 36. Kapitel
- Zwischenspiel 21 Streets of Berlin
- 35. Kapitel
- Zwischenspiel 20 Ihn hat der Rhein genommen
- 34. Kapitel
- Zwischenspiel 19 Tagliamento - Begegnung mit einem Fluss
- 33. Kapitel
- Zwischenspiel 18 Ein Jahr Krieg in der Ukraine
- 32. Kapitel
- 31. Kapitel
- Zwischenspiel 17 Drei Wochen Kalabrien
- Zwischenspiel 16 Pianova - 5 Tage in Ostfriesland
- 30. Kapitel
- Zwischenspiel 15 Impfpflicht
- 29. Kapitel
- Zwischenspiel 14 Assisi Vielleicht
- Zwischenspiel 13
- 28. Kapitel
- 27. Kapitel
- 26. Kapitel
- Zwischenspiel 12 - Acht Tage Winter-Wunder-Welt
- 25. Kapitel
- 24. Kapitel
- Zwischenspiel 11 6 Tage in Berlin
- 23. Kapitel
- 22. Kapitel
- 21. Kapitel
- Zwischenspiel 10. Coronagener Lebens-Wandel
- Coronawoche 13.
- Coronawoche 12
- Coronawoche 11
- Coronawoche 10.
- Coronawoche 9
- Coronawoche 8
- Coronawoche 7
- Coronawoche 6
- Coronawoche 5
- Coronawoche 4
- Coronawoche 3
- Coronawoche 2
- Coronawoche 1
- 20. Kapitel
- 19. Kapitel
- Zwischenspiel 9 Porto
- 18. Kapitel
- Zwischenspiel 8 Nachlese: Il viaggio dei due pensionati
- Zwischenspiel 7, Il viaggio dei due pensionati
- Prolog
- Wochen 1 und 2
- Wochen 3 und 4
- Wochen 5 und 6
- Wochen 7 und 8
- Wochen 9 und 10
- Wochen 11 und 12
- Zwischenspiel 6
- Zwischenspiel 5 Ein paar Tage in Frankfurt
- 17. Kapitel
- 16. Kapitel
- 15. Kapitel
- 14. Kapitel
- 13. Kapitel
- 12. Kapitel
- Zwischenspiel 4 Urlaub in der Toscana
- 1. Woche
- 2. Woche
- 3. Woche
- Wieder zurück
- 11. Kapitel
- 10. Kapitel
- Zwischenspiel 3
- 9. Kapitel
- 8. Kapitel
- Zwischenspiel 2
- Zwischenspiel 1
- 7. Kapitel
- 6. Kapitel
- 5. Kapitel
- 4. Kapitel
- 3. Kapitel
- 2. Kapitel
- 1. Kapitel
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24. Februar 2022
II
Erschreckende Erkenntnis: Ich weiß nicht, wie Frieden geht. Wie in Frieden Sein geht. Im Kleinen nicht und schon gar nicht im Gr0ßen. Was ich – immerhin – ahne, jedenfalls im Kleinen: Er beginnt immer mit Nachgeben. Auch und gerade dann, wenn es wehtut. Mir oder meinem Gegenüber. Das Nachgeben. Weil für mich oder mein Gegenüber Recht, Erkenntnis, Werte, Gefühl – einfach alles –zornig dagegenspricht. Und weil Stärke zu zeigen einen hohen Wert hat.
Am 24. Februar 2022 war mein erster Gedanke: Die Ukraine muss sofort kapitulieren. Sie muss das tun im Zusammenspiel mit einem Konsortium international anerkannter Politiker: innen und sonstiger wichtiger Akteure aus UN, OSZE, Nato, Internationalem Währungsfont, aus allen Kirchen, aus NGO’s und Hilfsorganisationen. Und im Zusammenspiel mit den Menschen in der Ostukraine und auf der Krim. Oberstes Ziel kann nur sein, dass möglichst kein einziger Mensch stirbt. Mit jedem Eskalationsschritt würden es mehr werden. Würde der Krieg länger dauern. Würde der Tod wüten für Kriegsziele, von denen man sich dennoch ganz zwangsläufig irgendwann wird verabschieden müssen. Eine klug vorbereitete und inszenierte Kapitulation schien mir der einzig rationale Umgang mit dem Überfall durch die russische Armee. Vor meinem inneren Auge ergänzte ich diese Vorstellung mit einer weltweiten Bewegung, in der Menschen kommentarlos weiße Tücher aus den Fenstern hängen. Auch in Russland.
Erzählt habe ich das nur drei sehr vertrauten Menschen. Sonst niemandem. Ich habe mich nicht getraut. Ich hatte Sorge, meine Gedanken würden als pazifistische Weichei-Spinnerei abgetan. Und ich möchte kein pazifistischer Weichei-Spinner sein. Mich lässt das noch heute stutzen, dass ich offenbar mit einer bitteren Automatik genau solch eine Bewertung mit meinen Kapitulationsgedanken verband. Als würden mir immer noch alle diese – meist männlichen – „Vorbilder“ im Nacken sitzen, die Zeit meines politischen Denkens eine unüberwindliche Mauer bildeten. Man hatte die Realitäten zu sehen. Und das bedeutete immer, den Status Quo der furchtbaren Spielregeln der jeweils gültigen Welt- Wirtschafts- und Sozialordnung zu akzeptieren. Als ich jung war, konnte ich noch mit scheinbar verstehender, in Wahrheit hochnäsiger „Na-ja-er-ist-ja-noch-jung-Nachsicht“ rechnen. Je älter ich wurde, umso weniger. Und umso mehr befleißigte ich mich in Konfliktsituationen selbst auch der Logik der Eskalation. Des Stärke-Zeigens. Beim Autofahren, im Beruf, in privaten Auseinandersetzungen.
Nicht einmal in Ruhe mich zu informieren und nachzudenken, vielleicht zusammen mit anderen, hilft. Ich gerate immer in dieselben Sackgassen.
„Natürlich“, so kann ich denken, „muss jetzt der sogenannte Westen dem ‚Regime Putin‘ unmissverständlich zeigen, dass ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen ein Nachbarland nicht hinnehmbar ist. Natürlich muss deshalb der Westen die Ukraine ermächtigen, sich so zu verteidigen, dass die Angriffsnation nicht mit einem Erfolg rechnen kann.“ In der „Die-Welt-ist-nun-mal-wie-sie-ist-Logik“ ist das zwingend. Es bestünde ja, wenn man es nicht täte, – so folgere auch ich – die Gefahr, dass das russische Regime immer weitermacht. Also muss man es jetzt stoppen.
Ende der Sackgasse erreicht. So zwingend logisch, wie es scheint, ist es ebenfalls zugleich zwingend zynisch. Der Westen ermächtigt die Ukraine, Krieg zu führen. Das bedeutet: Umfassendes, nicht enden wollendes Menschen-Töten. Um das russische Regime zu stoppen? Um die Werte des sogenannten freien Westens – gerne genannt: „unsere Werte“ – zu verteidigen? Je stärker dieser „freie Westen“ die Ukraine ermächtigt, umso größer wird die Zahl der Getöteten, die dieser „freie Westen“ als Kalkulationsmasse behandelt. Denn in dieser Logik wird der Krieg erst enden, wenn beide Seiten durch ihn kein Fortkommen mehr sehen. Wie groß muss der Leichenberg, gefördert durch die Waffen des Westens, bis dahin werden?
Notausgang aus der Sackgasse: Stimmt das überhaupt, dass Russland dann immer weitermachen würde? Ist das wahrscheinlich? Kein Notausgang. Ich kann die Frage nicht beantworten. Wahrscheinlich können das nicht einmal Geheimdienste, also auch nicht die real entscheidenden Akteure im Westen. Wenn man mit irgendeiner Art von Kapitulation jetzt ein Ende dieses Krieges erreicht, müsste man zugleich diplomatisch Schutzmauern gegen die vermutete Weiterführung des Imperialismus durch Russland einziehen. Wie sollte das gehen? Also eine neue Sackgasse.
Ich versuche einen anderen Gedankenweg und ende wieder in einer Sackgasse. Menschen, die in offenen Briefen oder in Talkshows ein stärkeres Bemühen um diplomatische Lösungen wünschen oder gar fordern, vielleicht gar ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen, wird gerne vorgeworfen, vom gemütlichen Sofa aus könne man diese pazifistische Haltung leicht haben, als Bürgerin und Bürger der Ukraine, umgeben von der Leibhaftigkeit des Schreckens, wohl nicht. Auch das hat eine unmittelbar einleuchtende Logik. Diese Haltung wird von einem (jetzt ehemaligen) ukrainischen Botschafter geradezu unflätig verbreitet. Man lässt es ihm durchgehen. Er stehe halt unter Druck und müsse für die Unterstützung seines Landes kämpfen. Diese Großzügigkeit bringt man gegenüber denen, die mehr Diplomatie fordern, eher nicht auf. Sehr schnell erscheint der Topos der pazifistischen Spinner auf der Leinwand des öffentlichen Diskurses. Oder noch schlimmer: Der Topos „Putinversteher“. Zwei Gedanken weiter zeigt sich dann auch hier das Ende der Sackgasse. Denn die „Sofa-Logik“ gilt ja für die „Realisten“, also die „Nicht-Pazifisten“ genauso. Eigentlich sogar stärker. Vom Sofa aus lässt sich trefflich Eskalation betreiben. Man kann – je nachdem, wie forsch man formuliert – für sich selbst sogar ein bisschen Heroismus abschöpfen. Preiswerten allerdings. Denn er muss nicht mit dem eigenen Blut bezahlt werden. Man kann den schneidigen Ton eines Herrn Hofreiter, einer Frau Strack-Zimmermann, eines Herrn Merz, eines Herrn Röttgen und vieler anderer auch so lesen. Der Ton eines Gustav Gressel vom European „Council on Foreign Relations“ wäre mit „schneidig“ schon unangemessen freundlich bezeichnet. Er nennt in einem groß aufgemachten Interview im „Stern“ die Entscheider im „Westen“ „Hosenscheißer“.
Was sich als zwingende Logik geriert, ist genau das oft gerade nicht. Es wird nur erst beim zweiten Blick deutlich.
Gegen Ende Januar 2023 debattiert die Medienwelt über die Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine, – gerne kumpelig „Leo“ genannt. Begleitet wird diese Debatte von umfassenden Informationen über die Leistungsfähigkeit dieses Panzers. Dies wiederum gerne begleitet von beeindruckenden Bildern, wie diese Geräte durch schlammiges Gelände pflügen. Als ginge es um die Markteinführung eines neuen SUV. Anfangs argumentieren Menschen wie Frau Strack-Zimmermann in vielen Interviews damit, dass Deutschland mit seiner zögerlichen Haltung in Europa isoliert sei. Es entsteht der Eindruck, diese Zögerlichkeit führe dazu, dass der Ukraine Hilfe verweigert werde. Im Laufe der Debatte wird langsam klar, dass die Isolations-These nicht stimmt. Diejenigen Länder, die sich schon früh klar für eine Lieferung der Panzer positionieren, sind die baltischen Länder und Polen. Es gibt die behauptete Isolation nicht. Es gibt – abgesehen von den genannten Ländern – eine Gemeinschaft des Zögerns. In dem Moment schwenkt Frau Strack-Zimmermann um und beklagt mangelnde Führung durch Deutschland. Was dann das Gegenteil bedeutet. Deutschland soll sich durch ein „Ja“ zur Leopard-Lieferung in die Isolation begeben. Als Grund wird genannt: Deutschland sei die stärkste Wirtschaftskraft in Europa und müsse vorangehen. Wieder tut sich eine Sackgasse auf. Ich erlebe Frau Strack-Zimmermann und alle die anderen Protagonisten des Stärke-Zeigens als Menschen, die sich nicht fragen, welche Lösungen jetzt sinnvoll wären, sondern nach Argumentationen suchen, die im Sinne der gewünschten Eskalation den Beifall einer angenommenen Öffentlichkeit versprechen. Und ich habe immer wieder den Verdacht, dass Mechanismen der parteipolitischen Auseinandersetzungen wichtiger sind als das Problem selbst. Wenn Herr Merz dem Kanzler wortgewaltig Zögerlichkeit vorwirft, so unterstelle ich, geht es ihm gar nicht um die Ukraine, sondern darum, den politischen Konkurrenten zu beschädigen und zugleich als Nebeneffekt darum, mit der Anklage der Führungsschwäche eigene Führungsstärke zu suggerieren. Also der bessere Kanzler zu sein. Mit dem kleinen Makel: In der Konjunktiv-2-Version der Kritik an der angeblichen Führungsschwäche des Gegners ist der Eindruck eigener Stärke leicht herzustellen, nur halt als Schein.
Ich nehme all dieses Getöse wahr. Und beobachte mich selbst. Ich spüre, wie ich ein wenig aufatme, wenn ich lese, die Ukraine habe hier oder dort Gelände zurückerobert. Die russische Führung habe sich verkalkuliert. Ich bin Zaungast und werde zum „Mitfiebern“ verleitet. Die Unabhängigkeit von russischem Gas sei geschafft. Das Raketenabwehrsystem „Patriot“ werde zu neuer Stärke der Ukraine führen. Die ukrainische Armee habe höhere Kampfmoral als die russische. Als würde ich einer sportlichen Auseinandersetzung beiwohnen und mich freuen, wenn die von mir favorisierte Partei Oberwasser gewinnt. Begleitet werde ich dabei von Militär-Spezialisten, die Strategien erklären und bewerten. Von Kampfkraft sprechen, von Durchschlagskraft, von Truppenstärke und Ähnlichem. Ich nehme wahr, wie mir Herr Selenskyj sympathischer ist als Herr Putin. Hier der um sein Volk besorgte aufrechte Streiter im fronttauglichem grünen Pullover. Dort das unbewegte Gesicht des Despoten im schwarzen Anzug, der immer zu klein an zu großen Tischen sitzt mit gespreizten Beinen. Hier das tapfere ukrainische Volk. Dort ein Volk von durch professionelle Demagogie irregeleiteten Idioten. Hier die weinende alte ukrainische Frau, die aus einem zerschossenen Haus klettert. Dort die pelzbehängte Schönheit vor einer Boutique in Moskau, die es richtig findet, dass die Nazis in der Ukraine jetzt entmachtet werden. Und muss mich zwingen, mir immer wieder klarzumachen: All das sind Bilder. Ausgewählt und arrangiert. Nicht die Wirklichkeit. All dies ist Inszenierung. Und relativiere meine Gefühle.
Und erneut muss mich wieder zwingen, mir zu vergegenwärtigen: Es geht hier darum, Menschen zu töten. In möglichst großer Zahl. Um in eine günstige Verhandlungsposition zu kommen. Und dann wünschte ich sehnlichst, die Akteure der öffentlichen Debatten würden in ihrem Gestus, in ihrer Wortwahl, in ihrer Haltung endlich die demütige Zurückhaltung zeigen, die das Töten erfordert.
Umgeben von den Mauern am Ende der Sackgassen hebe ich ab. Und phantasiere ein Schul-Geschichtsbuch in 50 Jahren. Es wird der Versuch gemacht, möglichst griffig zu erklären, wie es zum 3. Weltkrieg kam. Textbruchstücke scheinen auf. Von der Besetzung der Krim, von russischen Separatisten, von der Russland-China-Allianz, von einem chinesischen Ballon über Montana, von Taiwan, von dem Krieg in Syrien, den russische Truppen im Sinne des syrischen Machthabers entscheiden. Von den Drohnen-Lieferungen des Iran an Russland. Es gelingt mir nicht, mir vorzustellen, wie das Durcheinander all der bedrohlichen Einzelheiten im jetzt geschehenden Heute zu einem erklärenden und verkürzt gewichtenden Geschichtstext aus der Rückschau gerinnt.
Und dann höre ich lieber auf zu denken. Zu bewerten.
Und frage mich, wie das gehen soll. Wahrnehmen, hören, sehen, mitfühlen ohne zu denken, ohne all das in meinem kleinen Kopf sortieren zu wollen. Ohne zu verdrängen.
An dem Tag, an dem ich diesen Text beende, muss ich morgens zur Ärztin. Ich kratze sorgfältig die zugefrorene Frontscheibe frei und fahre los. Als sich die Straße aus unserer Siedlung gegen die tief stehende Morgensonne wendet, hat sich die gefrierende Tauschicht auf der Scheibe wieder verdichtet. Ich sehe buchstäblich nichts mehr. Ich suche nach einer Möglichkeit, doch noch weiterzufahren. Aber es wäre die pure Unvernunft. Also bleibe ich stehen. Hinter mir steht inzwischen ein anderes Auto. Ein ziemlich großes. Ich schalte die Warnblinkanlage an und gehe hin. Entschuldige mich, dass ich stehenbleibe. Aber ich müsse jetzt erst noch einmal kratzen. Der Fahrer faucht mich wütend an: Und dann bleiben sie hier mitten auf der Straße stehen!?! Es folgt eines dieser sinnlosen zornigen Wortgefechte. So laut, dass mich eine Nachbarin besorgt fragt, ob alles in Ordnung sei.
Und als ich an diesem Tag wenig später von der Ärztin zurückfahre, höre ich im Radio eine Reportage über „Agent Orange“, das Gas, das als Kriegswaffe von der Armee der USA großflächig eingesetzt wurde. Und erfahre, dass noch heute die dramatischen Auswirkungen dieses Giftes das Leben von Zehntausenden von Menschen zerstören. Noch in der vierten Generation, so höre ich, sind bis zu viertausend Menschen unter 12 Jahren an den Folgen gestorben.
Und komme zuhause an.
Und atme auf.
Und stehe vor den Fotos der Kinder und Enkelkinder in unserer Küche. Wie schön sie sind!
Und spüre ihr Glück. Und meins.
Und schäme mich fast. Weil genau in diesem Moment wieder jemand durch eine Kriegswaffe stirbt.
Und denke: Das muss doch ein Ende haben! Dieser Irr-Sinn, so unrealistisch es auch scheint in dieser „Die-Welt-ist-wie-sie-nun-mal-ist“-Welt.
Und am selben Tag erlebe ich, wie die Zahlen der Opfer des Erdbebens in der Türkei und in Syrien mit quälender Unerbittlichkeit steigen.
Und denke: „Bitte, bitte, bitte!! Die Welt schreit doch nicht nach Krieg! Sie schreit um Hilfe!“