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Tagliamento

Begegnung mit einem Fluss

Ein Gedächtnisprotokoll

Beteiligte:
Tagliamento [im Folgenden „T“ genannt]
Trotzkopfdumm [im Folgenden „M“ genannt]

 

M ist sehr früh aufgewacht. Er steht am Fenster, wie oft in diesen Tagen, und schaut hinab.

Tagliamento von San Rocco aus

Unten im Tal sieht er T. Ein breites helles Band aus Kies und mäandernden Wasserläufen, das sich durch das Tal windet.  Er erinnert sich: Schon oft hat er solche Art von Fluss gesehen. Von irgendwelchen Brücken aus. Und immer ein wenig sehnsüchtig hinuntergeschaut in das Spiel von gurgelnden Stromschnellen und stillen kleinen Tümpeln und zarten Rinnsalen zwischen Kieseln in allen Größen. Und immer davon geträumt dort unten herumzustromern, eine Zeitlang Teil des Spiels zu sein. Und es dann doch nie gemacht.
Er phantasiert, er könnte ja jetzt … vielleicht auch fotografieren … es ist noch früher Morgen … das Licht ist milde … andererseits: er ist auch noch schlafträge … vielleicht doch noch einmal hinlegen …

Tagliamento Mäandern

„Und warum?“
M weiß, dass T diese Frage stellt. Er wundert sich nicht, dass er T`s Stimme hören kann. Er wundert sich auch nicht, dass er sich nicht wundert. Er antwortet einfach.
„Warum was?“
„Warum hast du es nie gemacht?“
M denkt nach. Eine ganze Weile.
„Ich weiß es nicht. Ich war immer gerade unterwegs irgendwohin. Und allein mit meinem Wunsch. Ich habe ihn immer verschwiegen. Sogar vor mir selbst. Vielleicht habe ich mir auch einfach nur nicht zugestanden, wieder Kind zu sein. Warum sollte man in einem Flussbett herumstromern, wenn nicht, um zu spielen?“
Er schaut wieder zu T hinunter. Atmet einen Moment etwas schwerer.
„Du siehst wunderbar aus.“
„Ich weiß,“ sagt T.
„Woher willst Du das denn wissen? Du siehst Dich doch nicht selber von da unten.“
Es entsteht eine sehr lange Pause. M fürchtet, das Gespräch sei schon wieder zu Ende.
Doch dann hört er T`s Stimme wieder. Auf freundliche Art bestimmt: „Ich möchte etwas klarstellen. In unserer Welt gibt es so etwas nicht. ‚Ich weiß‘ sagen und nicht wissen. Es nur sagen, um etwas vorzutäuschen, jemanden zu beeindrucken. Oder aus noch anderen Gründen. Das gibt es nur in deiner Menschenwesenwimmelwelt. Wenn ich sage ‚ich weiß‘, dann heißt das nur ‚ich weiß‘, weil ich eben weiß.“
M ist beschämt.
Er schiebt das beiseite, denn er freut sich auch, dass das Gespräch weitergeht.
„Bitte erkläre mir, wie das möglich ist, dass du weißt, wie du aussiehst.“
„Der Schnee, die kleinen und gr0ßen Bäche von den Bergen und Hügeln, die sein Schmelzwasser zu mir tragen. Die Regentropfen, die aus den Wolken hoch oben Bilder von mir mitbringen. Die Bilder in den Augen der Vögel, die durch mein Tal schweben, … es gibt viele Möglichkeiten, mich zu sehen.“
In diesem Moment verfliegt M`s schläfrige Unentschlossenheit. Er beschließt, aufzubrechen.

Nach kurzer Fahrt stellt er das Auto ab, greift die Kamera, steigt aus. Es ist noch kühl. Er zieht den Reißverschluss der Jacke zu und geht los. Die Vorfreude und die Kühle lassen ihn ziemlich schnell gehen. Noch schneller, als er von der Straße abbiegt in einen Waldweg und Kühle und Vorfreude tiefer werden.

Waldweg am Tagliamento

Er schaut sich um. Sucht Lücken zwischen Unterholz und Bäumen. T ist nirgendwo zu sehen.
Immerhin ist er nach einer Weile zu hören. Aber er spricht nicht. M hört nur ein vielstimmiges leises Rauschen. Es kling für ihn wie ein Orgelpunkt unter den Vogelstimmen. Er hält inne und horcht.
‚Merkwürdig‘, denkt er, ‚die Vielstimmigkeit des Flusses höre ich als Einheit, die Vielstimmigkeit der Vögel als buntes Sammelsurium von Einzelstimmen.‘
T`s Stimme taucht wieder auf: „Du hast gut beschrieben, was du da hörst. Meine Vielheit ist meine Einheit. Und umgekehrt. Das ist das Wesen eines Flusses, wenn er in Ruhe gelassen wird. Wie ich. Dann gibt es nicht nur ein Fließen, sondern ein Vielfließen. Und zwischendurch sogar ein Ruhen. Nur manchmal, wenn ich eine Zeitlang viel Wasser habe, werde ich ein breiter einheitlicher Strom. Wie eine aufbrausende Orgel. Und jetzt frag mich bitte nicht, woher ich Orgelklang kenne. Das wäre wirklich zu kompliziert zu erklären.“
„Wo bist du denn?“, fragt M, schon etwas genervt vom Herumsuchen.
T antwortet nicht. Er rauscht nur.
M folgt einer Wegabzweigung, die den Eindruck macht, als würde sie direkt auf T zuführen. Tatsächlich wird das Rauschen lauter und konkreter. Nach einer weiteren Biegung sieht er T.

Flussbett hinter Sträuchern

M geht weiter bis zum Ende des Weges. Es ist zugleich das Ufer. Enttäuscht muss er feststellen, dass hier ein stark strömender, breiter und tiefer Wasserlauf unmöglich macht, in das Kiesbett des Flusses hineinzukommen. „Ich komme hier ja gar nicht in dein Bett“, mault er enttäuscht. Nach einer Pause schiebt er nach: „Warum sagst du nichts?“
„Ich sag doch was.“
„Du sagst nichts. Du rauscht nur.“
„Mein Reden.“

M sieht ein, dass er so nicht weiterkommt. Er dreht sich um und geht den Weg zurück. An einer Stelle sind Gestrüpp und Gras jenseits des Wegrandes lichter. Dort schlüpft M ins Unterholz und versucht, sich querfeldein einen Weg zum Flussbett zu bahnen. Das gelingt nicht. Er unternimmt viele Anläufe. Alle scheitern. Immer wieder läuft er sich in dichter werdendem Gestrüpp fest und muss umkehren. Er wird dabei ungeduldiger, wilder und ärgerlicher. Stolpert. Reißt den Kopf zur Seite, als ein Dornenzweig durch sein Gesicht wischt, stößt an einen dicken Ast auf der anderen Seite, bleibt an Zweigen hängen, spürt, dass seine Füße und Unterschenkel nass werden vom Tau im hohen Gras und von den sumpfigen Stellen, in die er tappt. Wieder sieht er eine lichtere Stelle. Er strebt darauf zu.

Spinnennetz zwischen Ästen

Mitten in dem scheinbaren Durchgang hängt ein Spinnennetz und glimmt zart im Morgenlicht.
„Stopp!“ T`s Stimme ist energisch, wenn auch weiterhin freundlich. M bleibt abrupt stehen. „Du wirst jetzt hier nicht durch dieses Spinnennetz stürmen. Du bist schon genug durchs Unterholz gepflügt wie ein Berserker. Wer weiß, was du alles schon zerstört hast in deiner Ungeduld. Du wirst jetzt zum Weg zurückgehen und ihm so lange folgen, bis ich dir eine Stelle anbiete, an der du bequem in mein Flussbett eintreten kannst. Finde dich damit ab, dass ich bestimme, wann das geschieht, nicht du.“
T`s Stimme verstummt so energisch, wie sie wiederaufgetaucht war.
M gehorcht. Auf missmutige Art einsichtig.
T verlangt ihm viel Geduld ab. Immer wieder zeigt er sich kurz, bleibt aber unerreichbar.
Schließlich hat er ein Einsehen und lässt M eintreten. Eine faszinierende Welt öffnet sich ihm.

Flussbett vor Bergen

Spiegelung Berg

Ruhiges Fließgewässer in Flussbett

Wie in einem großen Ausatmen beruhigt er sich und beginnt, zusammen mit den Wasserläufen zu mäandern. Er strömt mit. Schneller. Langsamer. Ruhiger. Unruhiger. Bleibt stehen. Ruht. Beugt sich nieder, um etwas genauer anzusehen. Strömt weiter. Hockt sich hin. Spürt die Sonne auf dem Rücken. Dreht sich um. Stellt fest, dass die Flusswelt in der Gegenrichtung ganz anders aussieht. An einer Stelle sucht er wieder das Gespräch: „Tagliamento, sag, wie kann das sein: Ich sehe eine stille Wasserfläche wie einen kleinen Tümpel. So still, dass sogar Fadenalgen darin wachsen, und zugleich sehe ich an manchen Stellen dann doch ein wie aus dem Nichts auftauchendes kleines Strömen.“

Fadenalgen plus kleines Strömen

„Ich bin eben nicht nur da, wo du mich siehst. Ich bin auch unter deinen Füßen, manchmal ganz knapp, manchmal tiefer. Manchmal ist an irgendeiner Stelle der Druck plötzlich größer. Dann drückt es mich da ins Freie. Dann kannst du mich sehen. Dann staut es mich ein Stück weiter und es drückt mich nach unten. Dann verschwinde ich für dich wieder.“

Müll als Treibgut im Flussbett

„Ja“, meldet sich T zurück, „das kommt auch hier an. Es ist schwer, das Zeug wieder loszuwerden.“

Flussbett Rest Plastik

Sand im Flussbett mit kleinen Pflanzen

„Sag mal, Tagliamento, es ist verrückt, wie viele kleine Pflanzen hier im feuchten Sand zwischen den Kieseln stehen. Sie haben doch eine ganz ungewisse Zukunft. Drei Tage heftiger Regen und sie sind verloren. Genauso wie bei einer Woche heißen, sonnigen Sommerwetters. Trotzdem wachsen sie hier jetzt gerade munter drauf los.“
Schweigen. Stille.
„Tagliamento?!“
„Ja, was soll ich sagen. Ist es nicht bei dir genauso, Trotzkopfdumm?“

Nach einer weiteren Weile meldet sich T wieder: „Na los, kleiner Junge! Mach es einfach. Du hast bestimmt von Anfang phantasiert, dass Du irgendwann an einer seichten Stelle mal ins Wasser treten möchtest. Schuhe aus und rein mit dir! Aber erschrick nicht. Es ist kalt!“

Mit den Füßen im flachen Wasser

M schlüpft mit den nassen Füßen wieder in die Schuhe. Es ist jetzt Zeit zu gehen. Er sucht genau die Stelle, die T vor zwei Stunden angeboten hat, um das Flussbett zu betreten. Dort verlässt er es auch wieder.

Fluss im Gegenlicht

Er spürt ein wenig Abschiedsschmerz.
Er dreht sich noch einmal um.
Er findet es absurd, aber er tut es trotzdem: Er winkt T noch einmal zu.
Er hofft auf eine Reaktion.
Er bekommt sie. „Weißt Du, Trotzkopfdumm, für mich ist das Abschiednehmen nicht so ein sentimentales Thema wie für Dich. Bei mir ist das Bleibende der Abschied. Und umgekehrt. Etwas von mir bleibt übrigens bei dir. So wie etwas von dir bei mir. Ciao.“
M wendet sich nun ab. Am Ende des Weges, auf dem letzten Abschnitt, auf einigen Stufen, die zurück führen auf die Straße, schießt er noch ein Foto.

Treppe Ende Waldweg

Um sicher zu gehen, will er mit leicht anderer Perspektive noch ein weiteres Foto machen. Die Kamera meldet, dass der Akku leer ist.
M hat noch einen Ersatzakku in der Tasche. Aber er verwendet ihn nicht. Er entscheidet sich dagegen. Abschied und Bleiben.