Wir machen Urlaub. In der Toscana. In der Nähe von Lucca.
Auf den allerletzten Drücker haben wir ein Ferienhaus in the middle of nowhere gebucht. Umgeben von waldiger Hügellandschaft. Wenn man ein, zwei Kilometer bergauf wandert und dann hinabschaut, hat man schon größte Schwierigkeiten, das Haus überhaupt zu sehen.
Genau das wollten wir. In dieser wundervollen Landschaft sein. In der Nähe all dieser verlockenden Städte und doch in totaler Abgeschiedenheit.
Auch sie verhilft zu Inspirationen für ein Urlaubstagebuch der etwas anderen Art.
- 37. Kapitel
- 36. Kapitel
- Zwischenspiel 21 Streets of Berlin
- 35. Kapitel
- Zwischenspiel 20 Ihn hat der Rhein genommen
- 34. Kapitel
- Zwischenspiel 19 Tagliamento - Begegnung mit einem Fluss
- 33. Kapitel
- Zwischenspiel 18 Ein Jahr Krieg in der Ukraine
- 32. Kapitel
- 31. Kapitel
- Zwischenspiel 17 Drei Wochen Kalabrien
- Zwischenspiel 16 Pianova - 5 Tage in Ostfriesland
- 30. Kapitel
- Zwischenspiel 15 Impfpflicht
- 29. Kapitel
- Zwischenspiel 14 Assisi Vielleicht
- Zwischenspiel 13
- 28. Kapitel
- 27. Kapitel
- 26. Kapitel
- Zwischenspiel 12 - Acht Tage Winter-Wunder-Welt
- 25. Kapitel
- 24. Kapitel
- Zwischenspiel 11 6 Tage in Berlin
- 23. Kapitel
- 22. Kapitel
- 21. Kapitel
- Zwischenspiel 10. Coronagener Lebens-Wandel
- Coronawoche 13.
- Coronawoche 12
- Coronawoche 11
- Coronawoche 10.
- Coronawoche 9
- Coronawoche 8
- Coronawoche 7
- Coronawoche 6
- Coronawoche 5
- Coronawoche 4
- Coronawoche 3
- Coronawoche 2
- Coronawoche 1
- 20. Kapitel
- 19. Kapitel
- Zwischenspiel 9 Porto
- 18. Kapitel
- Zwischenspiel 8 Nachlese: Il viaggio dei due pensionati
- Zwischenspiel 7, Il viaggio dei due pensionati
- Prolog
- Wochen 1 und 2
- Wochen 3 und 4
- Wochen 5 und 6
- Wochen 7 und 8
- Wochen 9 und 10
- Wochen 11 und 12
- Zwischenspiel 6
- Zwischenspiel 5 Ein paar Tage in Frankfurt
- 17. Kapitel
- 16. Kapitel
- 15. Kapitel
- 14. Kapitel
- 13. Kapitel
- 12. Kapitel
- Zwischenspiel 4 Urlaub in der Toscana
- 1. Woche
- 2. Woche
- 3. Woche
- Wieder zurück
- 11. Kapitel
- 10. Kapitel
- Zwischenspiel 3
- 9. Kapitel
- 8. Kapitel
- Zwischenspiel 2
- Zwischenspiel 1
- 7. Kapitel
- 6. Kapitel
- 5. Kapitel
- 4. Kapitel
- 3. Kapitel
- 2. Kapitel
- 1. Kapitel
zwischenspiel-4-urlaub-in-der-toscana
Ankunft
Hart erkämpfte Ankunft. Es geht höher und höher. Die Straße wird enger und enger. Und schlechter und schlechter. Wir denken: „O.k., jetzt muss es ja gleich kommen. Das ist ja hier eigentlich schon keine Straße mehr.“ Dann: „O.k., jetzt muss es aber wirklich gleich kommen. Das ist ja eigentlich gar kein Auto-tauglicher Weg mehr.“ Kurz bevor wir erleben müssen, dass man hier mit einem normalen PKW eigentlich gar nicht hinkommt, taucht das Häuschen auf. Unschuldig lächelnd heißt es uns in the heart of the middle of nowhere willkommen. Die Frau, die uns hierher geführt hat und dann die Betten bezieht, fragt, als sie geht, ob wir genug zu lesen mithaben.
Den kleinen Skorpion, der unmittelbar vor ihrem Fuß entlanghuscht, will sie sofort zertreten. Ich kann sie gerade noch davon abhalten. „Die sind nicht giftig“, sagt sie. Na also. Ist doch eine gute Grundlage für friedliche Koexistenz.
Emoticon für: Tiefer Friede
(wahrscheinlich nach anfänglicher Verunsicherung)
Tag 1 [10.07.]
Ein Schläfchen am Nachmittag. Eines von 2 Stunden. Luxus. Am Ende ein Traum. Ich bin in einem großen Supermarkt an der Kasse und lade eine schier endlose Reihe von Dingen auf das Förderband. Als der Einkaufswagen endlich leer ist, beginnen auf dem Band auch schon die Sachen des Nächsten. Wieder eine schier endlose Reihe. Am Ende der Reihe hockt plötzlich eine Kollegin knielings auf dem Band. Sie lächelt dieses Lächeln. Eines, das irgendwie gar keins ist. Und doch da. Eines, das sich liebevoll über das Leben lustig macht, hart an der Grenze zur Ironie. Sie hockt da, fährt im gemächlichen Tempo der Päckchen und Flaschen auf mich zu und sagt: „Oh … nicht dass du mich jetzt für eine Ware hältst.“ Und lächelt. Oder auch nicht. Ich antworte: „Nee, geht ja nicht. Du bist ja nicht ausgezeichnet.“ Dann wache ich auf.
Tag 8 [17.07.]
Dank an Navid Kermani
(1) Für die Zuversicht, dem eigenen Sehen zu vertrauen.
(2) Für eine Erinnerung, die so gern erzählt werden möchte.
(1) Die zerstürmte Nacht war unruhig gewesen. Sogar das Gestänge des Sonnenschirms hatte das windige Wüten zerlegt. Und es war kühl, nicht nur drinnen.
Wir wollten weg hier. Weg vom wilden Berghütten-Dasein. Hinein in den Schutz der Stadt. Vielleicht Florenz? Die Uffizien lockten und schreckten zugleich ab. Ich fürchtete den Palazzo-Fresken-Ölgemälde-Medici-Overkill. Kermani erlöste uns. Wir haben ein Buch von ihm mit: Ungläubiges Staunen. Darin sind zwei Bilder aus den Uffizien beschrieben. Das war doch ein guter Perspektiv-Fluchtpunkt beim Eintauchen in dieses opulente Kunstgetümmel. Diese beiden Bilder suchen. Und vielleicht Anderes entdecken mit diesem Blick: Dem eigenen Sehen einfach vertrauend. Eines der von ihm beschriebenen Bilder – „Heimsuchung“ – war tatsächlich da. Ich staune. Über das Bild, über seinen, Kermanis, Blick. Über meinen, der ganz anders sieht und Anderes sieht. Das zweite Bild – „Die Opferung Isaacs“ – war nicht da. Unterwegs irgendwo auf der Welt in einer anderen Ausstellung. Mein eigener Blick. Er ließ mich entspannt an den Bildern vorbeischlendern, an anderen stehenbleiben. An wieder anderen fasziniert lange verweilen. Eines davon stellt eine biblische Geschichte dar. Mit einer Mischung aus blutrünstigem Horror, realistischer Darstellungslust und merkwürdig verklärenden Widersprüchen saugt es meinen Blick an. Ich erinnerte mich dunkel, dass ein sehr ähnliches Bild auch von Kermani beschrieben wird. Wieder zurück in der Berghütten-Einsamkeit ist dieses Bild heute ein Impuls.
Das Bild zeigt eine offenbar vielen bekannte und oft gemalte alttestamentarische Szene: Judith aus Judäa ermordet Holofernes. Er hat die Festung belagert, in die das Volk aus Judäa sich zurückgezogen hat. Es ist aussichtslos und so übergeben die Ältesten am 34. Tag der Belagerung, so schreibt Kermani, die Festung. Judith hat es geschafft, in das Schlafgemach von Holofernes zu gelangen. Er hat ihr zu Ehren ein Fest gegeben und vielleicht hat sie sich ihm als Geliebte angeboten. Auf dem Bild schneidet Judith ihm, als er schläft, den Kopf ab. In der Bibel dagegen, auch das lese ich bei Kermani, schlägt sie ihm zweimal mit aller Kraft in den Nacken.
Meinem eigenen Blick trauen. Zuerst all diese unbeantworteten und vielleicht auch unbeantwortbaren Fragen, z.B.: Wie kann es sein, dass Holofernes einer Frau ein Fest gibt, die eine der zentralen Figuren des Widerstandes gegen ihn ist? Eigentlich ein ähnlicher Impuls wie der, dass ich in abstrakten Bildern fast immer zuerst versuche zu erkennen „was das sein soll“, und meistens eine Weile brauche, bis ich von dieser Frage wegdenken kann. Dann die schaudernde Lust, die klaffende Wunde zu sehen, den entsetzten Blick des Sterbenden, das silbern blitzende Messer. Dann die auf eigenwillige Art hübsche Judith. Ein moderner Regisseur würde mit ihr die Rolle der jungen, ungewöhnlichen Grafik-Designerin besetzen. Single, hübsch, große Klappe, zartes Gemüt, höchst individuelle Selbstinszenierung. Dann die Brustwarzen, die der Maler sich unter dem Hemd abzeichnen lässt. Erlaubt er sich da einen kleinen erotischen Kick, oder ist das einfach in Zeiten der Nachahmung antiker Statuen normal? So hat mein Blick meine Gedanken bei der Hand und beide tasten sich von hier nach da.
Dann langsam ein konzentrierterer Blick.
Zuerst die alte Frau. Für Kermani ist sie abstoßend. Eine „geifernde Greisin“ „voller Mißgunst“ [übrigens eine, wie ich finde, albern rückwärtsgewandte Marotte in diesem Buch: Wörter, die heute mit ss geschrieben werden, mit ß zu schreiben …], eine, „die die Hölle vorwegnimmt“. Für mich ist sie einfach eine alte Frau, gezeichnet vom Leben, die ihre Pflicht erfüllt und Judith, der Herrin, hilft. Irgendwie muss man den Kopf ja transportieren, um ihn dem Volk zu zeigen. Sie hilft zu tun, was zu tun ist. Das hat sie ihr ganzes Leben lang gemacht. Helfen zu tun, was zu tun ist. Mit Mühe und Schmerz oft genug, wovon die Falten erzählen. In meinen Gedanken ist für die alte Frau richtig, was Judith tut. Und es ist richtig, dass sie hilft. Aber sie ist halt eine einfache Frau. Sie ist auch geschockt angesichts des Mordes. Ihr steht der Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Verbrechen ins Gesicht geschrieben. Sie ist die Helferin, die in diesem Gestrüpp aus Widersprüchen mühsam einen Weg suchen muss.
Judith muss das nicht. In meinen Gedanken. Sie weiß den Weg. Und geht ihn mehr oder weniger unbeirrt. Einen kleinen Rest von Entsetzen und innerem Widerstand angesichts des Mordes allerdings sehe ich auch bei ihr. In den beiden Stirnfalten. Das macht sie, die Heldin, ein bisschen menschlich. Diese Falten und die leicht nach hinten gebeugte Haltung erzählen mir wie insgeheim von schweratmig hintan geseufztem Zögern. Ansonsten aber ist sie Heldin. Einfach und korrekt gekleidet. Die Haare schlicht nach hinten gebunden, vorne, von der Anstrengung leicht gelöst. Die Haut rosig, rein, beinah engelhaft. Und doch ist sie eine Heldin, die arbeiten muss. Sie hat die Ärmel hochgekrempelt. Sie hat das Hemd beinah provisorisch, vielleicht eilig?, verschnürt und über den Brüsten seitlich eine Schleife gebunden.
Kermani nennt sie in seinen Gedanken eine „dumme Pute“, deren Gesichtsausdruck mit Stirnrunzeln und leicht geschürzten Lippen nur vielleicht ein „bißchen Erschrecken“ und damit eine „ehrliche Regung“ sei, aber ebenso gut eine „letzte Verspottung“ sein könne. Wahrlich sieht Kermani diese Judith ganz anders als ich. Mir ist, als würde ich tatsächlich be-greifen können, was es heißt, dass Menschen etwas je anders sehen, mit je eigenen Augen.
Und natürlich mag ich die verhüllt modellierten Brustwarzen von Judith. Ich würde mich gerne in diesem erotischen Kitzel mit dem Maler verbunden fühlen. Aber ich ahne, dass das Quatsch ist.
Dem Blick Kermanis Ähnliches sehen meine Augen im Opfer, das so lange tyrannischer Täter war. Er ist tatsächlich ein Mensch, ein starker, muskulöser obendrein, der in einem letzten verzweifelten Moment von Wachheit erlebt, dass er jetzt stirbt.
Am Ende meines sehenden Suchens, meines erblickenden Tastens scheint so etwas wie eine Botschaft auf. Da versucht ein Maler, die in seiner Zeit sicher nur allzu bekannte Geschichte einer biblischen Heldin so zu erzählen, dass sie menschlich wird, dass von der in zahllosen Erzählungen der Menschen möglicherweise immer zähfließender gewordenen Verklärung mit einem kleinen archäologischen Spachtel etwas abgekratzt wird, auf dass die Geschichte menschennäher werde. Soll es vielleicht dadurch einem nicht professionell Frommen leichter werden zu glauben? Besteht angesichts der kühlen Rationalität der Medici-Geschäfte vielleicht sogar die Gefahr von allzu viel Zweifel an diesen mystisch abgehobenen Geschichten? Ist es nicht gleichsam „hipp“, dem damals modernen Menschen, dem man als Individuum deutlich mehr Selbstbewusstsein unterstellt als dem Menschen der Generationen vor ihm, ein pragmatischeres Bild von Religion anzubieten? An diesem Punkt ist sozusagen der Schlusssatz meiner Erzählung von diesem Bild gar nicht so anders als der von Kermani. Nur mit viel weniger revolutionärem Drive. Der Künstler als radikaler Visionär, der von den Gestrigen beschimpft wird. Ein bisschen so kommt es mir bei Kermani am Ende vor. Und dazu habe ich vielleicht als studierter Musikwissenschaftler mich einfach zu viel herumplagen müssen mit subalterner Anbetung des genialen Künstlers als Revolutionär, der das ganz Neue schafft und trotzdem der satten Selbstgewissheit des Bildungsbürgers, der ihn feiert, nicht gefährlich wird.
(2) Und danken möchte ich Navid Kermani auch für eine Erinnerung, die wieder hochgespült wird, als ich, des aufgeregten Hin- und Her-Blätterns müde, dieses wunderbare Buch einfach mal ganz unspektakulär von vorne lesen möchte.
Und an eben diesem Anfang berichtet Kermani vom Besuch eines Klosters. Meine Gedanken schweifen ab.
2012 besuchten die Liebste und ich das Kloster Chiaravalle di Fiastra in der Nähe von Macerata. Uns war nach einem Ort voller Geschichte und Spiritualität. Zu unserer großen Freude lasen wir auf einem nachlässig getippten Blatt am Eingang, dass an „unserem“ Abend um 18:00 in der Kapelle die Mönche ihre Andacht abhalten. Und dass sie dabei auch ihre uralten Choräle singen.
Natürlich waren wir um 18:00 da. Außer uns verloren sich noch 3 weitere Besucher in der Kapelle. Tiefe Stille über allem. Selbst neugieriges Sich-Umschauen schien uns schon nach kurzer Zeit unpassend. Reden sowieso.
Dann öffnete sich eine große schwere Eichentür am Rand des Altarraums. 7 Mönche betraten ihn. Alle waren schon sehr alt. Drei von ihnen gingen würdevoll, hoch aufragend, mit ausladenden Schritten. Die anderen schlurften gebeugt und beinah mühsam jeden Schritt sich selbst abringend zu ihren Plätzen. Vier saßen am rechten Rand des Altarraums, drei am linken. Alle hielten ein Gebetbuch in den gefalteten Händen.
Aus Warten wird Ruhe. Aus Gespanntheit Gelassenheit. Aus Beobachten Wahrnehmen. Aus Denken Denken lassen.
Die Andacht beginnt. Gesprochene Litaneien von wechselnden Sprechern. Dann Gesang. Milde weben sich die Töne in das Tuch aus Stille, das sich in das Deckengewölbe der Kapelle gespannt hat. Selbst „ergreifend“ ein kaum zutreffendes Wort.
Sprechen und Singen wechseln sich ab. Sind zugleich seltsam eins.
Dann poltert ein unpassendes Geräusch in die Klänge. Ein Handy bimmelt. Erschrocken tasten wir nach unseren Geräten. Aber wir hatten doch … Nein unsere sind es nicht. Ich schaue mich um. Die drei anderen Besuche reagieren genau wie wir. Das Bimmeln geht weiter. Es muss von woanders kommen. Die Litaneien aber gehen auch weiter. Die Mönche wenden sich nicht mit strafenden Blicken an uns. Nein. Sie beten weiter.
Dann plötzlich sehe ich, dass in der linken Mönchsreihe ein noch etwas Rüstigerer mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung seinen rechten Nachbarn mit dem Ellenbogen anstupst. Dieser reagiert nicht. Unbeirrt tastet er sich in den Gebeten voran. Das Anstupsen wird energischer.
Endlich reagiert der andere. Als würde er erst jetzt das Gebimmel bemerken, lässt er sich von seinem Nachbarn mit einem sanften Kopfnicken darauf hinweisen, dass das Bimmeln von ihm kommt. Eine ganze Weile braucht er. Dann sucht er in den Falten seines Gewandes. Er fummelt mit zittrigen Händen das zwippelnde Etwas heraus. Sein Zittern scheint dem Altern geschuldet, nicht einer Aufregung. Der Kopf ist tief über das Gerät gebeugt. Ein Zeigefinger sucht die Tasten ab. Es gelingt ihm nicht, das Gerät auszuschalten. Unnachgiebig zwippelt es weiter. Der Rüstigere greift vorsichtig über zu seinem Nachbarn. Ein weiteres Zeigefingertippen. Das Geräusch endet. Der Apparat verschwindet wieder in den Faltentiefen des Gewandes. Die Andacht geht nicht weiter. Sie war die ganze Zeit nicht unterbrochen.
Lange habe ich diese Geschichte als spaßige Anekdote aus dem Urlaub herumerzählt. Hi, hi, nicht die doofen Touristen, die Mönche selber.
Der Respekt, den Kermani religiöser Kunst zollt, belehrt mich heute eines Besseren. Die Geschichte ist keine Anekdote. Heute denke ich: Mönche machen ihre Arbeit, routiniert, geübt, tief gläubig, ernst. So ein albernes Gezwippel kann sie nicht ernsthaft stören. Auch das gemeinsame Bemühen um Ausschalten nicht. Und das liegt nicht an einer tiefen meditativen irgendwie überhöhten, scheinweihevollen Spiritualität, die wir Yoga- und Meditations-Jünger so gerne dahineindenken möchten. Nein, die Spiritualität liegt in der ruhigen, routinierten Gewohnheit, in der andächtigen Routine konzentrierter, zahllose Male geübter Arbeit.
Beinah schäm ich mich ein bisschen, dass ich häufiger diese Geschichte in Erzählrunden dazu benutzt habe, mich selbst anekdotisch aufzublähen.
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Tag 15 [24.07.]
Lucca 1
Als hätte die Stadtmauer, die rund um die ganze Stadt noch erhalten ist, die Häuser, die Gassen, die Plätze, die Bewohner geschützt und täte es noch heute. Alles ist gedämpft. Die Häuser schauen freundlich zu dir herunter, die Straßen und Piazze legen sich wie einladende Teppiche vor dich. Selbst die Motorroller kommen einem eine Spur leiser vor. Die Autos rollen sanft heran, die Glocken läuten musikalisch, die Musik, die aus irgendeiner Bar herüberweht, ist gedämpft. Die Menschen lächeln. Auch die Besucher. Als würde die Mauer ihnen allen ihren Platz sichern. So dass sie nicht laut und fordernd darum kämpfen müssen. Selbst die Nippes-Läden, die es natürlich auch hier gibt, schreien ihren Andenken-Blödsinn dem Passanten nicht entgegen. Sie sind da, sie laden ein. Sie winken dir scheu lächelnd hinterher, wenn du vorbeigehst.
Als würde die Mauer den Überlebenskampf da draußen von drinnen fernhalten. Und das da drinnen davor schützen, zu entgrenzen und sich dabei zu verlieren. Dauernd möchte man verweilen, schauen, bei sich und zugleich zusammen sein mit all dem um einen herum. Als wir einem schon älteren Kellner erzählen, wie schön wir „seinen“ Ort finden, womit wir eigentlich „sein Café“ meinen, missversteht er uns wie selbstverständlich, schwärmt für seine Stadt und beginnt mit der Mauer. Er zählt einige berühmte Städte auf, die allesamt berühmt und großartig seien, aber seine Stadt sei „unico“. „La mura“.
Der Schwiegersohn und ich erkunden sie und fast noch hingebungsvoller einen Teil ihres Innenlebens. Die Stadtmauer hat an mehreren Stellen große Ausbuchtungen. In diesen Ausbuchtungen gibt es Gewölbe. Der Erzählung im Reiseführer nach dienten diese Gewölbe der Verteidigung der Stadt in besonderer Weise. Ihre Zugänge waren durch die besondere Bauweise nicht auf Anhieb erkennbar, – schon gar nicht von weitem. So war es möglich, dass kleine Gruppen von Reitern an einer Stelle plötzlich ausbrechen, den Gegner überraschen und ebenso schnell an einer anderen Stelle wieder verschwinden konnte. Als wir durch die Gewölbe stromern, reisen wir in eine andere Zeit. Wir hören Pferdehufen-Getrappel, Rufen. Knirschen von Leder, wenn die letzten noch schnell in den Sattel springen. Es liegt konzentrierte Anspannung in der Luft. Der Geruch von Männerschweiß mischt sich mit dem der Pferde. Das unruhige Schnaufen der Pferde mischt sich mit dem Geräusch von Klingen.
Kaum trennen können wir uns von unseren Phantasien.
Als wir alle am Abend die Stadt wieder verlassen wollen, holen der Schwiegersohn und ich das Auto, das außerhalb der Stadt geparkt ist. Ein Hauch von Melancholie weht mich an, als wir durch ein großes Tor in der Stadtmauer aus dem Inneren hinaustreten. Und ein Gefühl von Aufatmen, als wir wieder in die Stadt hineinfahren um die anderen zu treffen.
Man möchte einfach gerne wieder zurück. Hinein in den Schutz.
Lucca 2
Selbstbildnis mit Fahrrad und eingezogenem Bauch.
Tag 16 [25.07.]
Im Traum ein Hund. Er liegt neben dem Nachbartisch in einem Café. Ein blöder Hund. Braun. Eher klein. Glattes Fell. Spitze Schnauze. So eine Sorte, die gar nicht aussieht wie ein richtiger Hund. Eher wie ein kleines Reh. Ein Weichei-Hund. Kann wahrscheinlich nicht mal richtig kacken. Drückt wahrscheinlich nur mit viel Mühe und zitternden Hinterläufen einen mickrigen Karnickel-Köttel raus. Kann wahrscheinlich auch nicht richtig bellen. Reißt das Maul auf, als wollte er gähnen und produziert nur ein helles „A – A“ mit Kinderstimme. Und dann trägt er auch noch ein albernes Hundeleinen-Geschirr. Nicht nur ein Halsband. Ein kleines Halfter um Hals und Brust mit folkloristischen Applikationen. Irgendwie bayrisch. Lächerlich!
Und dieses doofe Vieh macht sich bei jedem italienischen Wort, das ich spreche, lustig über meine Aussprache und über den Satzbau und über die falschen Vokabeln und überhaupt über alles. Bei jedem Wort. Ich weiß nicht, wie er das macht. Ich sehe es nicht. Ich weiß es nur. Es macht mich total sauer. Als wir zahlen und gehen, drehe ich mich nochmal um und ziehe ihm eine Grimmasse.
Er äfft meine Grimmasse nach und schickt sie mir hinterher.
Sofort danach wache ich auf. So ein Mist. Jetzt kann ich nicht zurückätzen und das blöde Vieh hat gewonnen.
Das wird ein Scheißtag.
Zur Strafe kriegt er jetzt diesen Text.
Wehe der läuft mir heute Nacht wieder übern Traum!
Tag 9 [18.07.]
Kindsköpfe 2
Gestern Abend bereiten die Tochter, die genau genommen Stieftochter ist, die ich aber einfach nicht so nennen kann, weil das so metallisch klingt, dass es meine Liebe zu ihr unmöglich macht, sie so zu nennen, die Tochter also und die Liebste bereiten einen Kartoffelsalat zu. Die Liebste und ich, der Jungenlager-gestählte Ehemann und Vater, der genau genommen der Stiefvater … bla … bla … fangen augenblicklich an zu singen. Der Schwiegersohn, der genau genommen … bla … bla … stimmt augenblicklich mit ein.
Danach erfinden der Schwiegersohn und ich immer neue 5-Silben-Textvorlagen für die Melodie. Irgendwann wollen sogar wir endlich aufhören, können aber nicht, weil Ohr- resp. Spaßwurm. Wir helfen uns mit diesem:
Heute Morgen beim Frühstück tut mir endlich mal jemand den Gefallen, mich zu fragen, was eigentlich der Trick an dem Lied ist. Die Chance lasse ich mir nicht entgehen und halte einen Kurzvortrag zum Thema ⁶⁄₈-Takt (schon relativ früh unterbrochen mit dem Hinweis „Warum eigentlich nicht ¾-Takt; kann man doch kürzen“, was mich aber, einmal im Dozier-Modus, nicht aus dem Takt bringt, das wär ja noch schöner!), Auftakt, natürliche Betonung von Silben, Taktschwerpunkt auf „1“. Mir egal, dass das sooo genau nun wieder doch keiner wissen wollte.
Die Aktion endet mit einem neuen, dem final-genialen Textvorschlag.
Tag 3 [02.08.]
Nach langer Zeit laufe ich heute mal wieder meine Runde. Ich habe noch den Touristenblick. Meine Landschaft. Ich finde sie wundervoll.
Das Laufen, … na ja.
Zwicken hier
Zwacken da
So sagt mein Leben ja
Na wunderbar.
Tag 3 [12.07.]
Entschleunigung in Echtzeit.
So jung und schon so warm ist dieser Morgen. Ich trete hinaus auf die Terrasse. Tasse Kaffee in der einen, Sudoku in der anderen Hand. Das, was ich gestern abgebrochen hab, weil es mir zu zäh wurde. Sonne oder Schatten? Kurzer Test. Ein Schritt ins gleißende Hell, schon umfängt mich die Sonne mit glühender Leidenschaft. Ich lass sie mich durchströmen und zieh mich schnell in den Schatten zurück. Richte mich auf zwei Stühlen ein. Die Logistik der Bewegungsabläufe verlangt genaueste Planung. Wie muss ich sitzen, dass es bequem ist? Dass die Holzstreben des Gartenstuhls sich nicht zu hart in den Hintern quetschen. Dass ich ohne großen Bewegungsaufwand an den Kaffee komme. Dass das Handy-Display mit dem Sudoku gut lesbar ist. Ich finde eine Haltung und tauche ein. Wenn hier die 2 hinkommt, dann steht sie auch hier und hier und da ist für die 7 dann nur noch in dem Kästchen … und für die 5 nur noch in dem Kästchen …, nee Moment, wo stand nochmal die 2? Von vorne. Wenn hier die 2 steht…
Die Zeit schmilzt unter dem Tröpfeln der Zahlen-Gedanken. Viel Zeit.
Von ganz weit hinten im Hirn kriecht ein Gefühl heran, das ich erst registriere, als es durch den Zahlenvorhang tritt. In dem Moment weiß ich, dass es schon eine ganze Weile versucht hat, auf sich aufmerksam zu machen. Irgendwas stimmt nicht.
Unwillig wende ich mich vom Sudoku ab. Ziehe Bilanz. Ist es das Knie, das beim Erklimmen der Burganlage etwas zu sehr belastet wurde. Joahh … Ist es der Hintern, der sich jetzt doch gegen die Holzstreben wehrt? Joahh .. Ist es das immer noch zähe Sudoku? Hmmm … Ist es der Kaffee, der über das Grübeln vergessen und kalt wurde? Ist es? Na klar! Vor allem ist es: Mir ist kalt. Der Himmel ist blaublau, die Sonne singt eine lustvolle Hitze-Arie. Und mir ist kalt. Jetzt wird es schwierig. Ist mir so kalt, dass ich bereit wäre, die doch irgendwie einigermaßen gut eingerichtete Sitzposition einschneidend zu verändern? Man kennt das doch. Man verändert eine Kleinigkeit und schon ist alles anders. Unangenehm anders. Lieber so bleiben. Blöderweise lässt sich das mir-ist-kalt-Gefühl nicht mehr wegschieben. Es ist wie beim Pinkeln morgens. Ich werde aufstehen müssen. Aber was könnte ich tun? In die Sonne wechseln? Zu heiß. Anziehen? Och nöh, – zu viel Aufwand. Ich hab’s. Da lag doch irgendwo noch ein unbenutztes Bettlaken. Da könnte ich mich doch…
Plötzlich ploppt ein Insekt auf den Tisch. Wie geht das denn? Ist es krank? Wenn es fliegen kann, muss es doch auch sanft landen können. So ein Tier fliegt doch nicht, sieht irgendwo einen Ort, wo es hinwill, zum Beispiel diesen hier, stellt die Flügel ab und hofft dass es ungefähr da aufknallt, wo es hinwollte, und dass es den Sturz überlebt. Ist es womöglich tot? Ganz vorsichtig stupse ich es an. Sofort fängt es hektisch an zu zappeln. O.k. tot ist es nicht. Es sieht merkwürdig aus: Länglicher schwarzer Körper mit einem einzigen gelben Ringel-Streifen um den Body. Hinterm Insektenköpfchen zwei große, weiß gepunktete schwarze Flügel. Sie sind zu klein für einen Schmetterling und zu groß für kein Schmetterling. Bekanntlich können sich die meisten Insekten ja im Laufe der frühen Entwicklung entscheiden zwischen zwei Existenzen. Libellen z.B. können sich entscheiden: Werde ich Scampi oder werde ich einer dieser Teich-Hubschrauber? Dieses Insekt hier hatte sich anfangs entschieden, Biene werden zu wollen. Als der erste gelbe Ringel um den schwarzen Körper fertig war, sah es ein, dass gelb-schwarz total blöd aussieht, und geringelt auch, und da die Zeit der zwei Möglichkeiten noch nicht um war, entschied es sich noch schnell, Schmetterling zu werden. Aber natürlich war die Frist schon fast abgelaufen und deshalb wurden die Flügel etwas kleiner als normal. Immerhin reichte die Zeit noch, dass der bienenschwarze Body sich zu einem tiefdunklen Blau hin verfärbte. Die Natur hat es schon faustdick hinter den Ohren.
Was wollte ich nochmal? Ach ja … Betttuch holen.
Bleibt immer noch die Frage: Warum plöppt das Tier hier so unbeholfen auf den Tisch? Vielleicht ist es aus dem Bett gefallen. Hier oben im Baum. Wo schlafen Insekten eigentlich? Schlafen die überhaupt? Wahrscheinlich ja schon. Außer Nachtfalter und Glühwürmchen. Und Eintagsfliegen. Die wären ja schön blöd.
Zurück zur eigentlichen Frage. Wo schlafen die Insekten, die schlafen? Wahrscheinlich ja in kleinen Nestern in Bäumen. Aus denen sie dann morgens, wenn sie, total verpennt, wie sie sind, sich einmal falsch bewegen, auf irgendwelche Tische ploppen. Wie sie wohl ihren Schlafplatz finden? Ob es immer derselbe ist? Ob es einer ist, wo sie vor z.B. Eidechsen sicher sind. Aber das geht kaum. Schließlich kommen Eidechsen überall hin. Die können sogar kopfüber an der Decke krabbeln. Klar! Das Insekt baut sein Bett auf einem Blatt am Ende eines dünnen Ästchens. Viel zu dünn, als dass es eine Eidechse halten würde. Natürlich auch so dünn, dass man völlig verpennt schon mal aus dem Nest auf einen Tisch ploppt.
Das Frösteln ist jetzt nicht mehr ignorierbar. Ich stehe auf, um das Betttuch zu holen. Als ich stehe, beschließe ich, mich, bevor ich reingehe, wo es ja auch kühl ist, erstmal einen ganz kleinen Moment in der Sonne aufzuwärmen. Ich setze mich auf eine Stufe. Verbrenne mir fast den Hintern. Wohlige Wärme flutet meine Adern. Es weht ein ganz zartes Lüftchen. Ein Hauch. Kaum erkennbar wiegen sich im Baum vor und über mir einzelne Äste und Blätter. Aber eines zappelt wie verrückt. Wie geht das denn? Ein einzelnes Blatt von ca. 83500 zappelt wie verrückt. Die anderen nicht. Wahrscheinlich sind auf der anderen Seite des Blattes ungefähr 150 Blattläuse und spielen kollektiv Wippen. Ob Insekten spielen? Warum nicht, wenn sie schlafen und auf Tische fallen und gelb-schwarze Ringel blöd finden. Eine Stufe weiter liegt eine Eidechse. Ist liegen überhaupt das richtige Wort? Eigentlich steht sie ja. Nur eben auf allen Vieren. Der Platz gefällt ihr nicht. Sie tappst auf die andere Seite der Stufe. Merkwürdige Art sich zu bewegen. Die Muskeln werden selbst bei kleinsten Bewegungen nicht langsam fließend in Gang gebracht. Nein. Jede Bewegung ist eine kleine Voll-Pulle-Eruption. Selbst wenn der linke Fuß hinten nur ein kleines bisschen erst nach oben und dann nach vorne zuckt. Und dann steht der ganze Körper wieder völlig starr da. Kopf und Hals wie beim Posieren in zwei weichen rechten Winkeln nach oben gebogen. Dann vorne rechts am Fuß irgendeine pieksige Unebenheit. Kurzes Zucken. Fuß nach vorne. Starre. Kopf die ganze Zeit hoch. Das muss voll auf die Halsmuskeln gehen! Von rechts hinten kommt eine Ameise angehetzt. Die ist so vertieft in ihren eiligen Job, dass sie gar nicht merkt, in welcher Gefahr sie schwebt. Noch ist sie sicher. Sie ist am Schwanz der Eidechse. Der übrigens, wie ich jetzt sehe, gar nicht so gemustert ist wie der Rest des Tieres. Er trägt nur ein schmutziges Grau-Braun. Alles andere aber schimmert silbrig in blau-grün-gelben Tupfen. Wenn sich jetzt dieses Riesenmonster umdrehen würde, hätte die kleine Ameise noch satt Zeit zu fliehen. Aber die dumme Nuss hetzt weiter. Richtung Kopf. Der auch noch leicht in ihre Richtung gedreht ist. Kurz überlege ich, ob ich einfach in die Hände klatsche, die Eidechse verscheuche und der Ameise so das Leben rette. Andererseits: Wenn ich damit jetzt hier oben anfange, mitten im toskanischen Dschungel, dann kriege ich viel zu tun. Jetzt ist die Ameise in Zungenreichweite. Eine kurze Muskeleruption. Rausrein. Weg ist sie.
Aber nichts passiert. Die Eidechse bleibt starr, inklusive Zunge. Die Ameise hetzt weiter. Ob Eidechsen keine Ameisen mögen? Kaum vorstellbar. Es ist schließlich eine toskanische Ameise. Die muss lecker sein. Wie alles hier. Kann natürlich auch sein, dass wir sie irgendwie aus Norddeutschland eingeschleppt haben.
Irgendwas zwickt auf meinem Schädel. Ich fasse hin. Die ganze Kopfhaut brennt. Sollte ich etwa von den paar Minuten in der Sonne schon…? Ich muss sofort in den Schatten. Aber da war es doch zu kalt. Genau, – das Betttuch. Mit einiger Anstrengung überwinde ich die Trägheit und stapfe ins Haus. Wo war nochmal das Betttuch? Ich suche herum. Hier ist es ja noch kühler als draußen im Schatten. Richtig kalt ist es hier. Vor allem die Füße auf dem Steinboden. Vielleicht ziehe ich mich doch besser an. Bevor ich mich hier erkälte. Im Sommer. In der Toskana. Wo liegt denn nur dieses blöde Betttuch?
Die Liebste ist aufgewacht. Ich höre oben ihr barfüßiges Tapsen. Schon kommt sie mir auf der Treppe entgegen. Sie trägt genau die Art von Hemd und die Art von Unterhose, die ich so sexy finde. Wahrscheinlich, weil sie genau das so gar nicht sein sollen. Sie kleiden ja nur den Schlaf. Herrlich warm ist mir, als wir uns umarmen. „Du bist ja ganz kalt“, sagt sie, „warst du die ganze Zeit drinnen?“
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Tag 18 [27.07.]
Bin mir nicht mehr sicher. Ist das jetzt Erholung für Fortgeschrittene? Oder doch sonneneinstrahlungsbedingte Verdünnisierung der Denkgrütze im Hauptspeicher im wahrsten Sinne des Wortes? Nutella wird bei dem Wetter schließlich auch irgendwann flüssig. Schätze ich.
Das Morgensudoku überfordert mich komplett. Mehr als die Grundregel kriege ich nicht mehr auf die Reihe. Die zynische Wortsalvenorgie des David Foster Wallace („Unendlicher Spaß“, Urlaubslektüre wäre nicht zutreffend, eher eine tropfenweise Einverleibung von immer höchstens 5-6 Seiten) passt schon eher zum Zustand meines Gripses.
Der Traum von heute Nacht auch. Handlung weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass Oliver Kahn (ja, der!) in unserer Küche saß. Die gar nicht aussah wie unsere Küche, aber eben doch unsere Küche war. Irgendwie gehörte er zu uns. Er zeigte mir das Ergebnis seiner Examensarbeit. Eine 3+. Sein Blick auf mich erwartete einen Kommentar. Ich war unsicher, was ich sagen sollte. Er schien enttäuscht. Also natürlich trösten. Eigentlich ist so eine Note ja tatsächlich auch nicht wichtig. Andererseits war ich innerlich belustigt und hätte ihn zu gerne ein bisschen gefoppt. Der Mann, der nicht müde wird, mit leicht nach oben ansteigender Tonkurve von „höchstem Niveau“ zu sprechen, sitzt hier und präsentiert eine, … pfff … 3 Plus. Bevor ich vegetativ hätte abspeichern können, wie ich dann tatsächlich reagiert habe, wache ich auf.
Weiß es also nicht.
Ab und zu schaue ich auf von meiner „Lektüre“. Oli geistert mir dann durch den Kopf. Einmal beobachte ich eine Eidechse, die ganz oben an einer bestimmt 2 Meter hohen Wand krabbelt. Und plötzlich lässt sie sich mit einem Flappsen auf den Boden fallen. 2 Meter! Ungefähr 20 Mal ihre Körperlänge. In meinem Fall wären das runde 35 Meter. Dann die Erdbeschleunigung einrechnen. „g“, glaub ich. Wie kann das gehen? Entweder kann die den Sturz so geschickt steuern, dass sie auf den Füßen landet, die unglaublich muskelbepackt sein müssen, weil sie ja den ganzen Tag, den Body hochhalten müssen, damit der Bauch nicht über den Boden schrappt. Oder die machen eben volles Risiko. Klappt oder klappt nicht. Das unbegreifliche Ploppen von Kleintieren irgendwohin (12.07.) ist weiterhin ungeklärt und um eine Variante reicher.
Irgendwann, wenn ich wieder Netz hab, kann ich das ja mal googeln (heißt das eigentlich in Italien „googlare“?). Und wenn ich grad dabei bin, kann ich ja auch gleich nachgucken, wie man eigentlich mit „g“ rechnet.
Bestimmt mache ich das, wenn ich mal wieder Netz habe. Ganz bestimmt. Aber vielleicht bin ich ja dann auch sonnbedingt endgültig verblödet. Was mir im Moment gar nicht schlimm vorkommt.
Tag 23 [02.08.]
Zurück auf 0. Kleine Korrektur
Die Tochter, die eigentlich … bla … bla … [s. Tag 9, 18.07. Kindsköpfe 2] hat irgendwann gelesen, was mein Urlaubstagebuch bis dahin so zu bieten hatte. „Die Geschichte mit dem Skorpion hast du uns aber anders erzählt. Du hast erzählt, die Frau hätte ihn getötet.“
[s.Ankunft]
So ist sie. Liebevoll ehrlich. „Literarische Freiheit“, rede ich mich raus. Bin beschämt, weil dieses kleine Lüglein meinem literarischen Anspruch auf Aufrichtigkeit mir selbst gegenüber widerspricht. Und einen guten Grund, die Geschichte so verändert zu haben, habe ich, wenn ich ehrlich bin, nicht. Ich wollte einfach am Anfang im Urlaubstagebuch gute Stimmung machen. Ja, o.k. – auch ein bisschen so tun, als wäre ich der blitzschnell reagierende Tierrettungsheld, der ich gerne in der Situation gewesen wäre.
Kein guter Antrieb fürs Schreiben, finde ich.
Die Aussage der Tochter hat seitdem genagt. Zurecht. Heute, da ich den Text veröffentliche, die echte Version:
Beim Durchgang durch das Haus, der, zumal todmüde mit der anstrengenden Anfahrt im Nacken, nicht gerade optimistische Vorfreude erzeugt (Alles dunkel, sehr einfach, sehr verwohnt, z.T. dreckig, eng), … bei diesem Durchgang also entdecke ich ein Insekt, das einem Skorpion verteufelt ähnlich sieht. Erschrecke. Ich frage sie, was das ist. Sie sagt: Ein Skorpion. Er huscht weg. Während sie erklärt, man müsse vor ihnen keine Angst haben, ein Biss würde zwar ordentlich zwicken, sei aber ungefährlich, weil nicht giftig, entdeckt sie im nächsten Zimmer wieder einen. Kaum gesagt, hat sie ihn schon zertreten. Ich sehe es nicht. Ich höre nur das Klatschen der Sohle und ein sehr hässliches Knacken. Wie üblich bin ich entsetzt, mit welcher Selbstverständlichkeit manchmal Menschen Tiere töten.
Für mich beschließe ich: „Nicht giftig“, hat sie gesagt. Das ist doch eine gute Grundlage für friedliche Koexistenz.
Tag 19 [28.07.]
Tereglio
Guten Freunden werden wir von diesem Dorf erzählen. Nur guten Freunden. Denn letztlich wissen wir nicht, ob es dieses Dorf wirklich gibt.
Aber ihr wart doch da, werden die guten Freunde einwenden. Ihr habt doch Menschen getroffen, etwas mit ihnen und ohne sie erlebt. Ihr habt die Häuser gesehen, die Gassen, die Wegweiser zu dem Dorf, seinen Namen auf der Straßenkarte. Dann werden wir lange schweigen. Innerlich dem Zögern der AntWorte lauschen. Bei guten Freunden kann man das. Und dann werden wir sagen: Wir haben etwas erlebt und gesehen, das sich wie ein wirkliches Dorf angefühlt haben könnte, und es zugleich aber auch nicht tat.
Am Anfang des Dorfes trafen wir zwei Frauen. Wir ließen die Scheiben heruntersurren und fragten sie, ob es einen kleinen Supermarkt oder etwas Ähnliches hier gebe. Ja, antworteten sie mit doppeltem Strahlen, es gebe ein kleines Geschäft, aber heute sei ja Mittwoch, und da sei es, – peccato! – geschlossen. Es gebe aber eine Bar. Dort könnten wir sicherlich etwas Brot, Käse und Wein kaufen, wohl aber eher nicht die Alufolie, die wir so gern für’s Grillen gehabt hätten. Dort hinter der Kurve sei ein Parkplatz. Da könnten wir das Auto abstellen. Von dort aus sollten wir uns auf den Weg zur Chiesa begeben. Ein Stückchen weiter sei dann rechts die Bar. Wir dankten, grüßten und empfingen erneut ein doppeltes Strahlen. Eines, wie man es vielleicht auf einer sommerlichen Hochzeitsgesellschaft erleben könnte. Aber so purzelbaumselig bei der einfachen Antwort auf die Frage nach dem Weg?
Der Eintritt in das Dorf wie das Durchschreiten einer Zeitgrenze. Mittelalter. Eine steil abwärts führende gepflasterte Gasse. Eine in sanftem Bogen aufwärts führende flachstufige, moosbewachsene Treppe. Die Kirche war oberhalb zu sehen. Also nahmen wir die Treppe. Die aber mündete nach der nächsten Kurve in einen überwucherten Hinterhof mit einem offenen Verschlag. Oh. Privat. Wir kehrten um und nahmen die Gasse. In goldenem Abendlicht floss sie abwärts. In der Mitte eine Rinne für das Regenwasser. Nichts war zu hören. Außer einem Telefonklingeln, wie es in einem 60er-Jahre-Film modern geklungen hätte. Kein Mensch. Das Strahlen der Frauen am Eingang und jetzt die Melancholie eines siechen uralten Dorfes. Das goldene Abendlicht auf einer Gasse, die gesäumt war von würdevoll schweigenden dunklen Steinfassaden und schweren, ebenso dunklen fensterlosen Eingangstüren. Zögernd gingen wir weiter und schwiegen. Hofften wir, jemandem zu begegnen, den wir hätten fragen können, ob wir hier weitergehen dürften, – könnten? Eingeladene Eindringlinge.
Die offene Tür entdeckten wir gleichzeitig. Die linke Hälfte einer verwitterten zweiflügeligen Tür. Im staubigen Halbdunkel des vielleicht 3 mal 3 Meter großen Raumes dahinter stapelten sich Haushaltsutensilien. Waschmittel, Wanderschuhe, Bindfadenknäuel, Schrubber. Eine ältere Dame mit einem milden, reifen Lächeln empfing uns. Ja, Folie habe sie und tippte dabei auf eine Schachtel mit Frischhaltefolie, die aus einem Sammelsurium vor der Ladentheke auftauchte. Noch ehe wie ausgesprochen hatten, dass wir Alu-Folie bräuchten, schwebte schon ein Karton vor unseren Gesichtern. Als hätte sie es von Anfang an gewusst. Helle Freude bei uns. Dasselbe milde Lächeln mit leicht seitlich geneigtem Kopf bei ihr. Die Kasse knarzte wie eine alte Rechenmaschine. Oder war es sogar eine? Wir dankten, grüßten und verließen das Geschäft wie die Praxis einer lebensweisen Heilpraktikerin. Merkwürdig deplatziert der Karton in meiner Hand. Der Bon. Wieder hüllte uns diese seltsam belebte Menschenleere ein.
Hinter einem Vorsprung tauchte plötzlich eine Gruppe Jugendlicher auf. Einige Mädchen. Einige Jungen. Alle in frisch gewaschenen sonnig weiß oder bunt leuchtenden glatten T-Shirts. Ganz und gar nicht dörflich. Wie in unterschiedlichen Posen auf Stufen, kleine terrassenähnliche Plateaus, Fensterbänke drapiert. Obwohl sie redeten, waren sie still. Sie erwiderten unseren Gruß nicht. Ein verstohlener Blick zurück nach dem Vorbeigehen zeigte uns, dass sie uns nicht hinterherschauten. Als hätten sie keine Notiz von uns genommen.
Vor uns stieg die Gasse wieder an. Ein dreirädriger Lieferwagen tauchte auf der Kuppe auf. Sein Knattern drückte die eng bei einander stehenden würdevoll altschweren Häuser ein wenig auseinander, auf dass er hindurchpasse. Im selben Moment kam neben uns ein junger Mann aus einem Haus. Er trug ein schickes kurzärmliges Hemd und bunte Shorts. Seine blonden Haare legten sich modisch frisiert in Pose. Sein „Salve“ klang, als wäre er ernsthaft erfreut uns zu sehen. Schon hatte er sich in entgegengesetzte Richtung gewandt. Trotz der ruhigen Gelassenheit, die er ausstrahlte, schien er es eilig zu haben. Dass in diesen Häusern überhaupt jemand wohnte, wunderte uns und zugleich wunderte uns, dass wir uns darüber wunderten. Auch darüber, dass hier ein junger Mann auftauchte, der ebenso gut, eigentlich fast besser, in die Eingangshalle eines modernen Hochglanzkinos passen würde. Das Lieferwagendreirad knatterte an uns vorbei. Wir sahen ihm nach. Bei dem jungen Mann hielt es an. Beide waren jetzt am tiefsten Punkt der Gasse. Der junge Mann kletterte hinten auf die Ladefläche, schlug mit der flachen Hand auf das Dach des Führerhauses und hielt sich an dem Drahtgestell hinter dem Führerhaus fest. Das Dreirad setzte sich wieder in Bewegung. Wir schauten uns um, in welche Gassenöffnung hinein wir dem Dreirad ausgewichen waren. Es war ein niedriger Mauerbogen, durch den eine noch engere Gasse steil abwärts führte. Unten saß in einer Insel aus dem jetzt schon nur noch spärlichen Abendlicht ein älterer, hagerer Mann auf dem Boden. Die Beine rechts und links von sich gestreckt. Er hantierte mit irgendetwas, das wir nicht sehen konnten. Zwei Katzen waren bei ihm. Eine strich in seinen Beinwinkel. Eine andere beobachtete und schob sich schließlich hinterher. Gab er ihnen zu fressen? Spielte er mit ihnen? War er einfach der Katzenmann?
Wir wandten uns ab und gingen weiter unseren Weg, jetzt wieder steil aufwärts. Wieder bringelte irgendwo ein Telefon mit dem Klang, den wir schon kannten. Noch immer sprachen wir kein Wort. Als wäre in dem Film, in dem wir uns bewegten, eben kein Text vorgesehen. Auf der Kuppe des Anstiegs rechts hinter einem Haus ein Glockenturm. Links gegenüber eine Kirche. Sie hatte drei Eingangstüren. Das in der Mitte ein großes Portal. Vor allen Türen hingen große Vorhänge aus schwerem Stoff, der irgendwann einmal dunkelrot gewesen war. Gegenüber der Kirche ein kleiner Platz mit Aussicht. Mitten auf dem Platz eine Statue. Ein trauriger, müder Soldat mit einem Barett. Den Opfern des ersten und zweiten Weltkrieges. Der Platz war wir frisch gewischt. Vom Geländer aus den Hang hinunter schwebte unser Blick auf einen Fußballplatz. Zwei kleine Tore. Die Spielfläche kleiner als gewöhnlich. Frisch gemäht. Die Torbalken wie frisch gestrichen. Ein Bergdorf voller enger steiler Gassen und Treppen und daneben ein Fußballplatz.
Ein Stückchen weiter auf unserem Weg tatsächlich eine Bar. Wir entdeckten sie erst, als wir schon fast vorbei waren. Beim Eintreten in das leer anmutende und doch eindeutig eine Bar beinhaltende Halbdunkel hörten wir gedämpfte Stimmen. Hinter der Theke, die außer einem Pappständer mit symmetrisch aufgereihten Chipstüten leer war, und einem hohen, ebenfalls fast leeren Regal entdeckten wir, wer gesprochen hatte. Ein großer älterer Mann und ein etwas kleinerer jüngerer Mann. Der Ältere hatte eine gebeugte Haltung und trug eine ehemals weiße Schürze. Sein auffällig ausgeprägtes Schielen gab seinem Gesicht etwas fremdheiter Märchenhaftes. Der Jüngere war leicht dicklich, trug ein italienblaues T-Shirt und hatte die Haare oben auf dem Kopf in einem Sträußchen zusammengebunden. Wie dieser freche Balkan-Schwede, der die Fußballwelt regelmäßig mit rotzräudigen Sprüchen aus der Ordnung schubst. Ja, natürlich könne er uns etwas Brot und etwas Käse verkaufen. Der Beschürzte verschwand links in einem Nebenraum. Der Jüngere murmelte ihm im Vorbeigehen etwas hinterher. Wir schauten uns um. Im Boden vor der Theke waren drei etwa 50cm lange und breite quadratische Fensterscheiben eingelassen, durch die man in einen dunkles Etwas unterhalb dieses Raumes sehen konnte. Vielleicht ein Keller. Ja, eine Cantina für Wurst und Wein, klärte uns der Ältere auf, als er wieder da war. Der Umbau des Bodens mit den Scheiben sei erst vor kurzem fertig geworden. Er hatte ein Viertel von einem runden Brot in der Hand. Ob das reiche. Dann schob er es umständlich in eine Papiertüte, deren Knistern in der märchenhaften Gedämpftheit dieses Raumes beinah aufdringlich war. Wieder verschwand er und tauchte kurz danach mit einem Stück Käse auf. Als er damit näher kam, konnte ich sehen, dass es schon ein etwas betagteres Exemplar war. Er legte Brot und Käse auf die Theke. Bei einem normalen Einkauf hätte man den Käse vielleicht doch eher nicht genommen. So aber schauten wir gebannt auf die beiden Lebensmittel, die auf der Theke lagen, und deren Preis nun abgeschätzt werden wollte. 8 Euro. Ehm, – nein, 10 Euro, ehm, nein, doch 8 Euro, so groß sei der Käse ja nicht. Wir waren so perplex ob der Szenerie, dass wir zustimmten. In der Cantina, knüpfte er an, werde wie gesagt Wein gelagert und Wurst. Ob wir vielleicht einmal probieren wollten? Schon hatte er einen kleinen Schluck in zwei Weingläser gefüllt. Offro io. Ich lade Sie ein. Schon der erste Schluck stieg zu Kopf. Zum Glück waren es nur noch zwei weitere. Eine Flasche kauften wir. Dann verließen wir den Laden, begleitet vom Lächeln und zurückhaltenden Winken des Älteren und von beobachtendem Im-Hintergrund-Stehen des Jüngeren.
Auf dem Rückweg kamen wir wieder an der Gruppe der Jugendlichen vorbei. Jetzt war sie deutlich weniger ruhig. Man lachte, plapperte und summte kleine Stücke der Musik mit, die von irgendwo aus dem Hintergrund kam. Zwei umarmten sich. Es kam uns überraschend innig vor. Als hätten sie jetzt verstanden, welche Rolle ihnen zugedacht ist. Sie spielten sie mit Freuden.
Als wir wieder im Auto saßen und so leise wie irgend möglich von dem Dorf wegfuhren, spürte ich schon eine vollkommen absurden Zweifel an der Existenz des Dorfes. Waren wir nicht vielleicht einfach nur in der Kulisse von Filmarbeiten zu einem surrealistischen Streifen gelandet? Mit Rollen, die wir traumwandlerisch sicher spielten, ohne zu wissen, welche es eigentlich waren. In einer Kulisse, die jetzt, wo wir im Auto saßen, schon wieder abgebaut war. Ein scheuer Blick in den Rückspiegel. Doch, – etwas von dem Dorf war noch zu sehen. Und doch zweifelten wir.
Letztlich wissen wir nicht, ob es dieses Dorf gibt. Wenn überhaupt jemand, dann wissen es nur die, die darin leben. Wenn es sie gibt.
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Tag 10 [19.07.]
Pisa-Studie
Tag 4 [13.07.]
Vertreibung aus dem Paradies.
Plötzlich ein Eindringling. Metallisches Knall-Knattern weht zu uns herauf. Bartkarierter Leder-Lüstling dreht am Griff. Eine bestimmte Sorte von Motorrad ist das. Gefahren wird sie vorzugsweise von spießigen saturierten Wohlstands-Aposteln, die sich jetzt, wo sie sich so ein Gefährt leisten können, so weit von dem dazugehörigen Lebensgefühl entfernt haben, dass sie für eine kleine Resterinnerung daran so ein geräuschimperialistisches Ding und in den Pausen starke Zigaretten und Bier brauchen. So ein Geräusch also weht hier zu uns herauf. Hallo??!!
Sofort wird es energisch und keinen Widerspruch duldend von den Vögeln vertrieben, die ein kleines bisschen lauter zirpzwitschern, von der toskanischen (oder heißt es toskanesischen?) Scheißhausfliege, die noch ein kleines bisschen wutbrummiger ihr Stakkato gegen die Fensterscheibe hämmert. [Man weiß gar nicht, ob man sie besonders hübsch finden soll – schließlich sind sie toskanische Scheißhausfliegen und damit über jeden Hässlichkeitszweifel erhaben – oder hässlich. Dieses widerliche Neon-Grün der Augen kann nur ein Ekel-Statement gegen toskanische (oder heißt es toskanesische?) Lieblichkeit sein.].
All diese Töne schwellen kurz an.
Unterstützung noch von den Bäumen, die einen Moment in der milden Brise geräuschvoller rauschen. Sogar ein Raubvogel mischt sich ein. Selten zu hören und erst recht zu sehen. Deshalb besonders. Er muss einen triftigen Grund haben. Ein kurzer Einsatz dieser Töne reicht, und schon ist das dummdreiste Knattern vertrieben. Das traut sich so schnell nicht wieder her.
Tag 11 [20.07.]
Ein zweites Mal zürnt die wirkliche Welt hinein in das netzlose Leben.
Erst vor 3 Tagen der Putsch-Versuch in der Türkei, der so lächerlich anmutet, dass die Reaktionen der erdoğanesk Herrschenden darauf schmerzhaft dreist und wie von langer Hand geplant wirken.
Dann dies: Ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan verletzt 5 Menschen in einem Regionalexpress in Würzburg mit einer Axt und einem Messer sehr schwer, vielleicht tödlich.
Renate Künast twittert:
Tragisch und wir hoffen für die Verletzten. Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden???? Fragen!
Wie ich manchmal Twittern hasse. Wie ich diese zwanghafte ins Netz hinein geschissene 140-Zeichen-Aktualitäts-Notdurft hasse, – ja hasse. Wie ich es hasse, mich, wenn ich mich informieren möchte, mit diesem Blödsinn befassen zu müssen. Und sei es dadurch, dass ich ihn mühsam herausfiltern und ausblenden muss. Denn aufgeregt habe ich mich im Zweifel ja schon. Z.B. darüber, dass Frau Künast eben diese Aktualitäts-Notdurft verrichtet und die kritische Frage stellt, ob es denn nötig war, den Attentäter zu töten. Die Frage wie bei einer pubertierenden 15-jährigen begleitet von 5 Fragezeichen.
Ob sie die Beileidsbekundung, die auch in ihrem Tweet steht, hinterher noch eingefügt hat, weil sie dann doch irgendwie ahnte, dass die kritische Frage dem heillos in die Welt hineinschreienden Leid – ja: Auch des Täters! – das Gegenteil von gerecht wird? Oder hat sie die Beileidsbekundung schnell in die Tasten gezwippelt, um sie quasi hinter sich zu bringen („Du, tut mir total leid, aber …“). Um dann zum Eigentlichen zu kommen.
Diese Art von Aas-Fresserei ist für mich wie, – ja, Du, tut mir leid, aber es ist wie ein zweites Verletzen. Ihre Botschaft übersetzt: Ich bin so verbohrt in die Rolle, die ich für mich vorgesehen habe, dass ich das Blut, den unendlichen Schrecken, die Not, all dieses Unsagbare, das ein Handeln, welches auch immer, so unendlich schwer macht, dass es sogar falsch sein kann, mal eben wegdrücke wie ein lästiges Telefongespräch und die eigenen faden Interessen in den Vordergrund schiebe. Diese Art von Aas-Fressen widert mich an.
Dass ein gegelter Jungspross in der CSU oder der runderneugalterten FDP so agiert, marionettenhaft eingesponnen in das Netz der Rede-Notwendigkeiten zur Selbstdarstellung der Partei, o.k., aber eine Vertreterin der Grünen, … obwohl … ja, ja, ich weiß schon … naiv.
Wie schön es doch wäre, wenn Politiker und Journalisten, wenn sie nun unbedingt sich äußern müssten, es schafften, regelmäßig ein bescheidenes „Ich weiß es nicht“ in die Welt zu senden oder ein „Ich möchte dazu keine Meinung haben müssen, denn mein Bild ist noch viel zu unvollständig.“
Oder noch besser: Öfter mal einfach ganz die Klappe halten.
Tag 5 [14.07.]
Kindsköpfe 1
Nach fest kommt ab.
Nach Entschleunigung kommt Langeweile.
Nach Langeweile schlechte Laune.
Oder Blödsinn.
Ene mene miste.
Die Liebste entdeckt in einer unscheinbaren Holzkiste ein schickes Boule-Spiel. Edle, silberne, schwere Kugeln. Sie schlägt ein Spielchen vor.
Ich sofort im Wettkampfmodus. Gemischt mit Ingenieurmodus. Gemischt mit Post-Entschleunigungs-Langeweile Mäkelmodus. Wo bitte soll man hier in diesem toskanischen Berghütten-Ambiente vernünftig (Ja! Vernünftig!) Boule spielen können? Auf ihre unnachahmliche Art (in etwa dieselbe, mit der sich mich dazu gebracht hat, der neuen Küche zuzustimmen) überredet sie mich zu einer Begehung des Geländes. Langsam kriege ich Spaß an dem Gedanken. Die Wahl fällt auf die einzige halbwegs ebene Fläche. Kluge Entscheidung. Wenn so eine Boule-Kugel erst mal mit Schwung den Weg ins Tal angetreten hat …
Das Gelände ist die Miniatur-Ausgabe einer Bergwiese. Natürlich nicht so eine wunderbar glatte Milka-Wiese. Nein. Buckelig, steinig. Ein Gemisch aus vertrockneten Graskrumen, Geröll und frischen Grasbüscheln. Ideale Boule-Bahn. Relativ gesehen. Schon fliegt die kleine Holzkugel (die Liebste klärt mich auf: Französisch. Cochonnet.) ins Spielfeld. Und verschwindet in einem kleinen Erdloch. Lachflash. Hingehen. Stelle merken. Boule-Kugel hinterher. Sieht gut aus. Wow – sieht sehr gut aus. Könnte direkt ein erster Königswurf sein. Aber dann ein Buckel. Die Kugel vollführt einen absurden Bocksprung und hüpft im rechten Winkel vom rechten Weg ab. Lachflash. Als alle Kugeln geworfen sind, tänzelt die Liebste kokett mit dem sehr professionell anmutenden Abstands-Mess-Bändchen hinterher. Gut, so ausgerüstet zu sein, wenngleich in diesem Fall nicht zwingend notwendig. Die zweitnächste Kugel liegt ungefähr zwei Meter weg, die nächste ungefähr einen. Leider nicht meine.
Spiel um Spiel. Lachflash um Lachflash.
Schon neigt sich die Dämmerung über den Hügel. Wieder fliegt die kleine Holzkugel. Genau in dem Moment, als sie die Hand der Liebsten verlässt, frage ich sie irgendwas Belangloses. Ganz die Liebste wendet sie sich natürlich mir zu. Zwei belanglose Sätze später wollen wir weiterspielen. Du bist dran, sage ich. Hab schon, sagt sie. Ratlos schauen wir der möglichen Flugbahn des Cochonnet hinterher, malen sie in Gedanken in die Luft. Womöglich in der Hoffnung, am Ende der Flugplan das spurlos verschwundene Kügelchen zu sehen.
Die ersten zehn Minuten suchen wir einfach so. Da, wo sie ungefähr gelandet sein müsste. Sie ist perfekt getarnt. Sie hat ziemlich genau die Farbe der vertrockneten Grasbüschel. Die Dämmerung neigt sich tiefer. Wir müssen aufrüsten. Schleppen an: Eine Stirnlampe, eine fette Taschenlampe, Modell NYPD, eine Harke, einen Rechen. Und machen uns an die Arbeit. Erstmal mit Rechen und Harke. Dann ohne Harke. Als ich mit der Taschenlampe, noch gar nicht an, ins Gelände komme, liegt das Kügelchen einfach da. Weithin sichtbar. Lachflash. Ein Glück, jetzt können wir noch den Matchball austragen. Steht unentschieden. Denke ich. Sicherheitshalber markieren wir die kleine Holzkugel mit einer der vielen kleinen Solarleuchten, die man einfach in den Boden stecken kann. Aber nur den Stab, sagt sie, nicht die Leuchte. Die zerdepper ich garantiert. Lachflash.
Vier Kugeln kullern lustig einen kleinen Hang am Spielfeld-Rand runter. Vierfacher Lachflash. Zwei Kugeln schaffen es. Die Siegerkugel liegt ungefähr zweieinhalb Meter weg. Super-Wurf. Es ist meine. Gewonnen.
Wieso gewonnen? sagt sie und spitzt schnippisch die Schnute. Eigentlich ja nicht. Das Spiel, bei dem die beiden Siegerkugeln in nur 1cm Abstand lagen, hatten wir gesagt, ja stimmt, hatten wir gesagt, wollten wir doppelt zählen. Es waren die Kugeln der Liebsten. Widerspenstig räum ich ein: O.k. unentschieden.
Aber dann machen wir morgen ein Entscheidungsspiel. Wir sind schließlich nicht zum Spaß hier.
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Tag 21 [30.07.]
Kindsköpfe 3
Obwohl schon die Melancholie des letzten Urlaubsfrühstücks über uns schwebt, albern wir herum. Auf meinem Teller liegt ein dunkelbrauner runder Haferkeks mit kleinen Nuss- und Schokoladenbröckchen.
Sieht aus wie …
… eingefallener Maulwurfshügel,
… Rad von einem kurz-nach-dem-Krieg Holzspielzeugauto,
… von einem Elefanten plattgetretener Straußenschiss („iiieeehhh!“)
… Scheibe von einer antiken Flex,
… Maori-Ohr-Schmuck-Abfall („hää?“ – „Loch vergessen“)
Tag 12 [21.07.]
Florenz. Aufgeregt eilen wir zum Dom. Wir sind verabredet mit der anderen Tochter, der Schwester, der Schwägerin, je nachdem wer von uns an sie denkt. Sie ist heute hier gelandet mit ihrem Freund.
Im Gewühl am Dom verlieren wir uns sogar kurz. Vor lauter aufgeregter Eile.
Schließlich entdecken wir sie in einem Café hinterm Dom. Sie strahlt uns entgegen.
Wir streifen zu sechst durch Florenz. Wie klitzekleine Sandkiesel in einem eifrig strömenden Bach purzeln wir durcheinander. Mal geht die mit dem. Dann mit der. Dann wieder mit der und der. Die dritte tänzelt immer mal auf mal neben dem Bordstein. Der Bürgersteig ist einfach zu eng für drei. Aber man möchte ja nebeneinander. Immer wieder sehe ich mich um und bin glücklich.
Meine Leute, mein Lächeln, meine Liebe.
So viele andere Leute kieseln wie wir durch die Stadt. Wir werden hierhin gestupst, dahin geströmt. Da sind kleine, glatt geschliffene graue, da sind grobere, sie treiben eher holprig, da sind bunte, schwere, leichte, derbe, feine.
Mal bleibt ein Grüppchen Kiesel an einer Statue hängen, kieselt ein wenig hin und her. Strömt dann weiter. Nur eins bleibt noch hängen. Die anderen sind schon weiter getrieben. Es purzelt hinterher. Andere Sandkiesel strömen achtlos vorbei. Als wären sie auf dem Weg irgendwohin. Wir alle kieseln durch die Stadt der wuchtigen stein gewordenen Bedeutungsschwere.
Und der bunten Nur-so-Sachen, des grellen Nippes, den man kauft, damit man später sich erinnert. Weißt Du noch? Das haben wir damals in Florenz. Ein Häufchen Kiesel vor dem großen kleinen David. Was wohl von unseren Zeiten bleiben wird? Woran dann die Kieselschwärme entlangströmen? Wovon sie dann erzählen?
Schließlich möchten wir verweilen. Strömen in eine kleine Bar, die in einem länglichen Schlauch mit schmalen Tischen auf den Arno zeigt. Drängen uns um den Tisch. Und plappern. Wie Bachkiesel, die kichernd an einander stoßen. Kleine Bedeutungsschwere inmitten der großen steinernen, würdevoll und ernst deklamierenden.
Ich freue mich.
Meine Leute, mein Lächeln, meine Liebe.
Tag 14 [23.07.]
Vielleicht doch
Vielleicht doch
Frieden schließen mit meiner Misere
Meinen monströsen Miserchen.
Komm, Leid, setz dich zu uns
Die andern sind schon da.
Ich stell sie dir vor.
Als erstes Krotos, der arge Selbstzweifel
Alle denken, er trage den Namen eines griechischen Gottes und schämen sich, weil sie ihn nicht kennen.
Dann Hielgar, die Angst vor dem Tod
Genauer gesagt: Vor dem Totsein.
Und schließlich: Ssam͠sul, die Not, sich nicht genug geliebt zu fühlen.
Sie grämt sich, weil keiner sich die Mühe gibt, ihren Namen richtig auszusprechen.
Sag uns deinen Namen.
Bro¢, sagst Du? Ich müsste ihn kennen?
Du kennst uns?
Aber natürlich! Klar! Du warst schon öfter bei mir. Jetzt erkenne ich dich.
Du bist die Schlafnot.
Nach Deinem Namen habe ich aber nie gefragt.
Das wüsste ich.
Nun, – setz dich zu uns.
Wir erzählen gerade unsere Geschichten.
Zeigen uns gegenseitig Bilder.
Wunder dich nicht, wenn sie sich wiederholen, die Geschichten
und die Bilder. Sie sind schon ein bisschen abgegriffen.
Wir benutzen sie halt oft, weißt du.
Ihr Lieben, fühlt euch wie zu Hause.
Vielleicht ziehe ich mich zwischendurch mal zurück.
Ich bin sehr müde.
Ihr könnt natürlich bleiben.
In meinen Träumen ist noch Platz.
Offen gestanden wäre ich allerdings auch nicht böse, wenn ihr gingt.
Aber womöglich vermiss ich euch dann
Vielleicht doch.
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Tag 7 [16.07.]
Einkaufen. Das Städtchen ist 18 km weg. Die Fahrt dauert, wenn alles schnell geht und nicht zu viele entgegenkommen, 50 Minuten.
Noch sind wir nicht so richtig sicher, ob wir den Weg zurück in unsere Enklave wirklich finden. Zum Glück haben wir oben am Haus unser Navigationsgerät gebeten, den Standort zu speichern. Jetzt weist es uns an, in 500 Metern rechts abzubiegen. Wie? Das ist doch nicht die Strecke, die wir hergefahren sind. Ja super. Vielleicht gibt es ja eine andere Strecke, die etwas weniger mühsam ist. Freudig biegen wir ab.
Mit jedem Kilometer bröckelt etwas ab vom Optimismus.
Wir erreichen ein Dorf. Fahren ein. Enger und enger die Gassen. Der magere Rest vom Optimismus reicht eigentlich nicht, um weiterzufahren. Nein, lass uns umdrehen. Eh wir uns hier festfahren. O.k., komm, die nächste Kurve noch.
Wir tasten uns um die Kurve herum. 10 cm enger dürfte sie nicht sein. Gut, – vielleicht mit eingeklappten Außenspiegeln.
Es öffnet sich ein Platz. Voller Menschen. Sommerlich fein gekleidet. Zwei von ihnen besonders fein. Lange Tafeln. Lustig klapperndes Essbesteck. Das gutlaunige Gewirr von Stimmen stoppt, schnappt lächelnd nach Luft. Wir auch. Wir stehen mit dem Auto mitten in einer Hochzeitsgesellschaft. Ein freundlicher älterer Herr kommt zu uns. Fragt, wo wir hinmöchten. Wir versuchen zu erklären. Er versucht zu erklären. So richtig sicher sind wir nicht, dass wir einander verstehen. Ein junger Mann kommt hinzu. Er spricht ein bisschen Deutsch. Moment, Leute! Sorry, aber irgendwann muss sich das Geld für den Volkshochschulkurs ja mal amortisieren. Also reden wir munter weiter, was unser Italienisch hergibt. Wir erfahren, – wohlmeinend begleitet von den munteren Blicken der kauenden Gesellschaft – sieht aus, als wären sie gerade bei der Pasta – sieht lecker aus – dass dieses Sträßchen tatsächlich dahin führt, wo wir hinwollen. Dass es aber nicht asphaltiert ist und wohl auch zu schmal für unser Auto. Aber kein Problem! Stückchen weiter sei noch ein kleiner Platz, da könnten wir drehen.
Dank. Gruß. Um die nächste Kurve. Drehen. Zurück. Noch einmal mitten durch die Hochzeitsgesellschaft, die uns munter hinterherwinkt. Wir lassen es uns nicht nehmen zum Abschied ebenso munter italienisch zu hupen. Man lernt ja in so einem Kurs nicht nur die Sprache!
Tag 14 [23.07.]
Gestern Nacht habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gesehen, wie der Mond aufgeht. Helllichtig lächelnd schob er sich hinter einem Bergkamm hoch. Wie ein Kind, das kichernd hinterm Sofa auftaucht, nachdem es sich versteckt hatte. Nur viel langsamer. „Hallo, ich bin’s, die kleine Sonne!“