Tag 8 [17.07.]
Dank an Navid Kermani
(1) Für die Zuversicht, dem eigenen Sehen zu vertrauen.
(2) Für eine Erinnerung, die so gern erzählt werden möchte.
(1) Die zerstürmte Nacht war unruhig gewesen. Sogar das Gestänge des Sonnenschirms hatte das windige Wüten zerlegt. Und es war kühl, nicht nur drinnen.
Wir wollten weg hier. Weg vom wilden Berghütten-Dasein. Hinein in den Schutz der Stadt. Vielleicht Florenz? Die Uffizien lockten und schreckten zugleich ab. Ich fürchtete den Palazzo-Fresken-Ölgemälde-Medici-Overkill. Kermani erlöste uns. Wir haben ein Buch von ihm mit: Ungläubiges Staunen. Darin sind zwei Bilder aus den Uffizien beschrieben. Das war doch ein guter Perspektiv-Fluchtpunkt beim Eintauchen in dieses opulente Kunstgetümmel. Diese beiden Bilder suchen. Und vielleicht Anderes entdecken mit diesem Blick: Dem eigenen Sehen einfach vertrauend. Eines der von ihm beschriebenen Bilder – „Heimsuchung“ – war tatsächlich da. Ich staune. Über das Bild, über seinen, Kermanis, Blick. Über meinen, der ganz anders sieht und Anderes sieht. Das zweite Bild – „Die Opferung Isaacs“ – war nicht da. Unterwegs irgendwo auf der Welt in einer anderen Ausstellung. Mein eigener Blick. Er ließ mich entspannt an den Bildern vorbeischlendern, an anderen stehenbleiben. An wieder anderen fasziniert lange verweilen. Eines davon stellt eine biblische Geschichte dar. Mit einer Mischung aus blutrünstigem Horror, realistischer Darstellungslust und merkwürdig verklärenden Widersprüchen saugt es meinen Blick an. Ich erinnerte mich dunkel, dass ein sehr ähnliches Bild auch von Kermani beschrieben wird. Wieder zurück in der Berghütten-Einsamkeit ist dieses Bild heute ein Impuls.
Das Bild zeigt eine offenbar vielen bekannte und oft gemalte alttestamentarische Szene: Judith aus Judäa ermordet Holofernes. Er hat die Festung belagert, in die das Volk aus Judäa sich zurückgezogen hat. Es ist aussichtslos und so übergeben die Ältesten am 34. Tag der Belagerung, so schreibt Kermani, die Festung. Judith hat es geschafft, in das Schlafgemach von Holofernes zu gelangen. Er hat ihr zu Ehren ein Fest gegeben und vielleicht hat sie sich ihm als Geliebte angeboten. Auf dem Bild schneidet Judith ihm, als er schläft, den Kopf ab. In der Bibel dagegen, auch das lese ich bei Kermani, schlägt sie ihm zweimal mit aller Kraft in den Nacken.
Meinem eigenen Blick trauen. Zuerst all diese unbeantworteten und vielleicht auch unbeantwortbaren Fragen, z.B.: Wie kann es sein, dass Holofernes einer Frau ein Fest gibt, die eine der zentralen Figuren des Widerstandes gegen ihn ist? Eigentlich ein ähnlicher Impuls wie der, dass ich in abstrakten Bildern fast immer zuerst versuche zu erkennen „was das sein soll“, und meistens eine Weile brauche, bis ich von dieser Frage wegdenken kann. Dann die schaudernde Lust, die klaffende Wunde zu sehen, den entsetzten Blick des Sterbenden, das silbern blitzende Messer. Dann die auf eigenwillige Art hübsche Judith. Ein moderner Regisseur würde mit ihr die Rolle der jungen, ungewöhnlichen Grafik-Designerin besetzen. Single, hübsch, große Klappe, zartes Gemüt, höchst individuelle Selbstinszenierung. Dann die Brustwarzen, die der Maler sich unter dem Hemd abzeichnen lässt. Erlaubt er sich da einen kleinen erotischen Kick, oder ist das einfach in Zeiten der Nachahmung antiker Statuen normal? So hat mein Blick meine Gedanken bei der Hand und beide tasten sich von hier nach da.
Dann langsam ein konzentrierterer Blick.
Zuerst die alte Frau. Für Kermani ist sie abstoßend. Eine „geifernde Greisin“ „voller Mißgunst“ [übrigens eine, wie ich finde, albern rückwärtsgewandte Marotte in diesem Buch: Wörter, die heute mit ss geschrieben werden, mit ß zu schreiben …], eine, „die die Hölle vorwegnimmt“. Für mich ist sie einfach eine alte Frau, gezeichnet vom Leben, die ihre Pflicht erfüllt und Judith, der Herrin, hilft. Irgendwie muss man den Kopf ja transportieren, um ihn dem Volk zu zeigen. Sie hilft zu tun, was zu tun ist. Das hat sie ihr ganzes Leben lang gemacht. Helfen zu tun, was zu tun ist. Mit Mühe und Schmerz oft genug, wovon die Falten erzählen. In meinen Gedanken ist für die alte Frau richtig, was Judith tut. Und es ist richtig, dass sie hilft. Aber sie ist halt eine einfache Frau. Sie ist auch geschockt angesichts des Mordes. Ihr steht der Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Verbrechen ins Gesicht geschrieben. Sie ist die Helferin, die in diesem Gestrüpp aus Widersprüchen mühsam einen Weg suchen muss.
Judith muss das nicht. In meinen Gedanken. Sie weiß den Weg. Und geht ihn mehr oder weniger unbeirrt. Einen kleinen Rest von Entsetzen und innerem Widerstand angesichts des Mordes allerdings sehe ich auch bei ihr. In den beiden Stirnfalten. Das macht sie, die Heldin, ein bisschen menschlich. Diese Falten und die leicht nach hinten gebeugte Haltung erzählen mir wie insgeheim von schweratmig hintan geseufztem Zögern. Ansonsten aber ist sie Heldin. Einfach und korrekt gekleidet. Die Haare schlicht nach hinten gebunden, vorne, von der Anstrengung leicht gelöst. Die Haut rosig, rein, beinah engelhaft. Und doch ist sie eine Heldin, die arbeiten muss. Sie hat die Ärmel hochgekrempelt. Sie hat das Hemd beinah provisorisch, vielleicht eilig?, verschnürt und über den Brüsten seitlich eine Schleife gebunden.
Kermani nennt sie in seinen Gedanken eine „dumme Pute“, deren Gesichtsausdruck mit Stirnrunzeln und leicht geschürzten Lippen nur vielleicht ein „bißchen Erschrecken“ und damit eine „ehrliche Regung“ sei, aber ebenso gut eine „letzte Verspottung“ sein könne. Wahrlich sieht Kermani diese Judith ganz anders als ich. Mir ist, als würde ich tatsächlich be-greifen können, was es heißt, dass Menschen etwas je anders sehen, mit je eigenen Augen.
Und natürlich mag ich die verhüllt modellierten Brustwarzen von Judith. Ich würde mich gerne in diesem erotischen Kitzel mit dem Maler verbunden fühlen. Aber ich ahne, dass das Quatsch ist.
Dem Blick Kermanis Ähnliches sehen meine Augen im Opfer, das so lange tyrannischer Täter war. Er ist tatsächlich ein Mensch, ein starker, muskulöser obendrein, der in einem letzten verzweifelten Moment von Wachheit erlebt, dass er jetzt stirbt.
Am Ende meines sehenden Suchens, meines erblickenden Tastens scheint so etwas wie eine Botschaft auf. Da versucht ein Maler, die in seiner Zeit sicher nur allzu bekannte Geschichte einer biblischen Heldin so zu erzählen, dass sie menschlich wird, dass von der in zahllosen Erzählungen der Menschen möglicherweise immer zähfließender gewordenen Verklärung mit einem kleinen archäologischen Spachtel etwas abgekratzt wird, auf dass die Geschichte menschennäher werde. Soll es vielleicht dadurch einem nicht professionell Frommen leichter werden zu glauben? Besteht angesichts der kühlen Rationalität der Medici-Geschäfte vielleicht sogar die Gefahr von allzu viel Zweifel an diesen mystisch abgehobenen Geschichten? Ist es nicht gleichsam „hipp“, dem damals modernen Menschen, dem man als Individuum deutlich mehr Selbstbewusstsein unterstellt als dem Menschen der Generationen vor ihm, ein pragmatischeres Bild von Religion anzubieten? An diesem Punkt ist sozusagen der Schlusssatz meiner Erzählung von diesem Bild gar nicht so anders als der von Kermani. Nur mit viel weniger revolutionärem Drive. Der Künstler als radikaler Visionär, der von den Gestrigen beschimpft wird. Ein bisschen so kommt es mir bei Kermani am Ende vor. Und dazu habe ich vielleicht als studierter Musikwissenschaftler mich einfach zu viel herumplagen müssen mit subalterner Anbetung des genialen Künstlers als Revolutionär, der das ganz Neue schafft und trotzdem der satten Selbstgewissheit des Bildungsbürgers, der ihn feiert, nicht gefährlich wird.
(2) Und danken möchte ich Navid Kermani auch für eine Erinnerung, die wieder hochgespült wird, als ich, des aufgeregten Hin- und Her-Blätterns müde, dieses wunderbare Buch einfach mal ganz unspektakulär von vorne lesen möchte.
Und an eben diesem Anfang berichtet Kermani vom Besuch eines Klosters. Meine Gedanken schweifen ab.
2012 besuchten die Liebste und ich das Kloster Chiaravalle di Fiastra in der Nähe von Macerata. Uns war nach einem Ort voller Geschichte und Spiritualität. Zu unserer großen Freude lasen wir auf einem nachlässig getippten Blatt am Eingang, dass an „unserem“ Abend um 18:00 in der Kapelle die Mönche ihre Andacht abhalten. Und dass sie dabei auch ihre uralten Choräle singen.
Natürlich waren wir um 18:00 da. Außer uns verloren sich noch 3 weitere Besucher in der Kapelle. Tiefe Stille über allem. Selbst neugieriges Sich-Umschauen schien uns schon nach kurzer Zeit unpassend. Reden sowieso.
Dann öffnete sich eine große schwere Eichentür am Rand des Altarraums. 7 Mönche betraten ihn. Alle waren schon sehr alt. Drei von ihnen gingen würdevoll, hoch aufragend, mit ausladenden Schritten. Die anderen schlurften gebeugt und beinah mühsam jeden Schritt sich selbst abringend zu ihren Plätzen. Vier saßen am rechten Rand des Altarraums, drei am linken. Alle hielten ein Gebetbuch in den gefalteten Händen.
Aus Warten wird Ruhe. Aus Gespanntheit Gelassenheit. Aus Beobachten Wahrnehmen. Aus Denken Denken lassen.
Die Andacht beginnt. Gesprochene Litaneien von wechselnden Sprechern. Dann Gesang. Milde weben sich die Töne in das Tuch aus Stille, das sich in das Deckengewölbe der Kapelle gespannt hat. Selbst „ergreifend“ ein kaum zutreffendes Wort.
Sprechen und Singen wechseln sich ab. Sind zugleich seltsam eins.
Dann poltert ein unpassendes Geräusch in die Klänge. Ein Handy bimmelt. Erschrocken tasten wir nach unseren Geräten. Aber wir hatten doch … Nein unsere sind es nicht. Ich schaue mich um. Die drei anderen Besuche reagieren genau wie wir. Das Bimmeln geht weiter. Es muss von woanders kommen. Die Litaneien aber gehen auch weiter. Die Mönche wenden sich nicht mit strafenden Blicken an uns. Nein. Sie beten weiter.
Dann plötzlich sehe ich, dass in der linken Mönchsreihe ein noch etwas Rüstigerer mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung seinen rechten Nachbarn mit dem Ellenbogen anstupst. Dieser reagiert nicht. Unbeirrt tastet er sich in den Gebeten voran. Das Anstupsen wird energischer.
Endlich reagiert der andere. Als würde er erst jetzt das Gebimmel bemerken, lässt er sich von seinem Nachbarn mit einem sanften Kopfnicken darauf hinweisen, dass das Bimmeln von ihm kommt. Eine ganze Weile braucht er. Dann sucht er in den Falten seines Gewandes. Er fummelt mit zittrigen Händen das zwippelnde Etwas heraus. Sein Zittern scheint dem Altern geschuldet, nicht einer Aufregung. Der Kopf ist tief über das Gerät gebeugt. Ein Zeigefinger sucht die Tasten ab. Es gelingt ihm nicht, das Gerät auszuschalten. Unnachgiebig zwippelt es weiter. Der Rüstigere greift vorsichtig über zu seinem Nachbarn. Ein weiteres Zeigefingertippen. Das Geräusch endet. Der Apparat verschwindet wieder in den Faltentiefen des Gewandes. Die Andacht geht nicht weiter. Sie war die ganze Zeit nicht unterbrochen.
Lange habe ich diese Geschichte als spaßige Anekdote aus dem Urlaub herumerzählt. Hi, hi, nicht die doofen Touristen, die Mönche selber.
Der Respekt, den Kermani religiöser Kunst zollt, belehrt mich heute eines Besseren. Die Geschichte ist keine Anekdote. Heute denke ich: Mönche machen ihre Arbeit, routiniert, geübt, tief gläubig, ernst. So ein albernes Gezwippel kann sie nicht ernsthaft stören. Auch das gemeinsame Bemühen um Ausschalten nicht. Und das liegt nicht an einer tiefen meditativen irgendwie überhöhten, scheinweihevollen Spiritualität, die wir Yoga- und Meditations-Jünger so gerne dahineindenken möchten. Nein, die Spiritualität liegt in der ruhigen, routinierten Gewohnheit, in der andächtigen Routine konzentrierter, zahllose Male geübter Arbeit.
Beinah schäm ich mich ein bisschen, dass ich häufiger diese Geschichte in Erzählrunden dazu benutzt habe, mich selbst anekdotisch aufzublähen.