Süßer Schmerz
Es hat ein wenig geschneit heut Nacht. Das Pflaster ist noch nass. Es hat wie üblich das Getrappel der bierseligen Nachtschwärmer gleichmütig über sich ergehen lassen. Der Sonntag Morgen ist noch jung. Halb Neun. Da, wo vor ein paar Stunden noch, ebenfalls wie üblich, die Polizisten gestanden haben, sind jetzt die Tauben. Und bewegen sich ähnlich. Mal stehen sie zusammen, picken irgendwas aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen. Dann hoppelt eine abseits. Zwei folgen. Andere bleiben. Dann schwirren alle gemeinsam ein Stückchen weiter. Vielleicht hinein in eine der vier Gassen. Und wieder zurück. Es ist ein lauschiger, kleiner Platz. Eine Ecke der Pub „The Anglo-Irish“. Gegenüber der Tattoo-Shop. Diagonal das Ritterhotel. Gegenüber das Hotel, in dem ich jetzt sitze und gestern Abend auch saß. Bewacht wird der kleine Platz von einem netten kleinen Ritterchen auf einer nicht übermäßig hohen Säule. Er wirkt wie aus einem Kinderbuch. Er ist nicht besonders Respekt gebietend. Schon gar nicht furcheinflößend. Kein Wunder, dass er für das nächtliche Treiben, das die zumeist jungen Herumstreifer wohl ‚Feiern‘ nennen, die Unterstützung der Ritter aus der wirklichen Welt brauchen. Deren Auftritt gestern Abend um 10 habe ich genauso beobachtet, wie die Katerstimmung jetzt. Zwei Wagen fuhren heran. Einer mit vergitterten Fenstern. Wenn mal eine/r sofort weggesperrt werden muss. Einer mit Ausrüstung. Es dauerte, bis alle Polizisten ihre umfangreichen Ausrüstungsgegenstände angezogen, umgekoppelt, angesteckt und aufgesetzt hatten. Dann zeigten sie Präsenz. Mal standen sie zusammen. Mal bewegte sich einer weg. Dann ein anderer auch. Dann wieder zurück. Mal schlenderten sie gemeinsam in eine der Gassen.
Das Hotel, in dem ich unten im Cafe sitze, ist mittendrin. Große bodenlange Fenster öffnen den Blick auf den Platz und die beiden Gassen rechts und links. Wie Schaufenster für die Blicke in eine andere Welt. Sie öffnen und schirmen ab zugleich. Kein Laut dringt von außen in diesen Raum. Die Welt da draußen wimmelt, – und schweigt.
Ein älterer Mann betritt das Cafe. Er ist hier fremd. Er ist winterlich gekleidet. Deutlich weniger teuer als die Gäste hier und als das Personal. Sein Gesichtsschnitt, seine Haarfarbe, seine Haut, sein Schnäuzer, der Tonfall, als er morgendlich grüßt, … er ist vielleicht Türke oder Libanese oder … Er bestellt einen Kaffee „ßum Mitnehme“. Zum Glück sagt er nicht „to go“. Der Mann hinter der Theke kennt ihn. Sie wechseln zwei drei nette Sätze. Ich schäme mich ein bisschen, als mir auffällt, dass ich in irgendeiner Ecke meines Gemüts denke, dass er nicht hierhin gehört. Mit einem Pappbecher in der Hand geht er wieder raus und steuert den Pub schräg gegenüber an. Er stellt den Becher auf einen der Holztische, die draußen stehen und verschwindet in der Kneipe. Vor dem Eingang liegt ein Haufen aus den Resten von Kartons. Um den Pub herum und unter und auf den Holztischen und -bänken liegt jede Menge Müll. Vor allem Getränke-Becher aus durchsichtigem Plastik.
Der Mann kommt wieder heraus mit einem Laubgebläse in der Hand. Er nimmt einen Schluck von seinem Kaffee, zippelt an dem Verlängerungskabel des Gebläses und schaltet es an. Selbst dieses Geräusch ist hier drinnen nicht zu hören. Wie verabredet taucht ein Lieferwagen auf. Ein Mann springt heraus, packt den Pappstapel vor der Tür und wirft ihn auf die Ladefläche. Der Gebläse-Mann zwängt sich zwischen Holztischen und Bänken und Wand in die Zwischenräume und treibt Müll vor sich her. Ein kleines Straßenreinigungs-Gefährt taucht auf. Wie aus der Playmobil-Welt ins echte Leben geschickt. Die beiden lustig blauen Besen-Räder von rechts und links erinnern an die Fühler von Maikäfern. Noch einen Schluck Kaffee „ßum Mitnehme“ und dann pustet das Gebläse die Reste der Nacht dem Playmobil-Gefährt entgegen. Offenbar wird das Gefährt von mehreren Männern begleitet. Sie tauchen um das Gefährt herum auf. Ihre neonfarbenen Warnwesten und ihre orangenen Overalls wirken irgendwie überdimensionert. Als wären sie hier mindestens auf einer vielbefahrenen Autobahn unterwegs. Auch sie tragen in sich Migrationsgeschichten. Ich frage mich, wieviele von denen, die heut Nacht hier gezecht haben, wohl mit von Alkohol gelöster Zunge von Grenzen dicht und Scheiß-Ausländer gefaselt haben. Und auch, ob ihnen wohl klar ist, dass der Müll, den sie in jeder Nacht hinterlassen, am nächsten Morgen von genau diesen Menschen hier beseitigt wird. Ich sehe einen Film im Zeitraffer. Feiervolk schwirrt heran, füllt den Platz, wabert wie eine Menschenwolke. Bierbecher, Chips-Tüten, Zigarettenschachteln sammeln sich. Polizisten wimmeln dazwischen. Die Wolke wird wieder kleiner. Verschwindet ganz. Der Müll bleibt. Der Tag beginnt. Tauben meandern zügig hoppelnd. Männer in Warnwesten wimmeln heran, reinigen den Platz. Vereinzelte Tourist*innen huschen vorbei, fotografieren den Ritter. Sonne geht unter. Feiervolk wimmelt heran. Und von vorne.
In mir wimmert leis ein Schmerz. Ich kann die Absurdität der Szene nur schwer ertragen. Die Männer da draußen, nicht eben gerade anerkannt in unserem Land, säubern diesen zugemüllten Platz, nur damit er in ein paar Stunden wieder so aussieht. Und ich sitze hier in Watte gepackt in einem mit Liebe und viel Geschmack eingerichteten Hotel-Cafe. Umgeben von einigen wenigen anderen Gästen. Die garantiert keinen Müll liegen lassen. Man grüßt hier freundlich. Man duzt sich. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass man an einen Tisch tritt und ein wenig plaudert. Vielleicht setzt man sich sogar dazu und ein Gespräch entsteht. Und vielleicht wird daraus sogar eines, dass mehrere „Ach-Ich-Trink-noch-einen-Kaffee“s dauert. Man ist umsorgt von sehr freundlichen und überhaupt nicht devoten oder diensteifrigen Menschen. Sie alle wirken, als würden sie ihre Arbeit auf eine entspannte Art einfach gerne machen. Es läuft sehr leise Musik. Aber es ist nicht dieses nervige Ritzen-Wispern. Es ist tatsächlich ungewöhnliche, schöne Musik. Man isst leckere Sachen. Sie sind alle biologisch, sie sind fleischfrei. Vieles stammt sogar aus eigenem biologischen Anbau auf einem Feld im Taunus.
Es ist schön hier. Ich fühle mich gut. Ich bin hier drinnen umgeben von wohl versorgten Menschen, die es gut haben in unserem Land. Und muss mich schon ein bisschen drängeln nicht zu sehr darunter zu leiden, dass die da draußen sich dies hier niemals leisten können. Dass sie sogar wie zum Hohn für meine Betrachtungen aus dem wohligen Dasein heraus als Kulisse herhalten müssen. Schmerzende Süße beim Aushalten dieses Widerspruches, für den ich zumindest keinen biologisch korrekten irgendwie einleuchtenden intellektuellen Notausgang suchen will. Wenigstens das.