Stirb!
Nun stirb endlich!
Seltsam, – genau das höre ich, wenn das „Alles-Gute!“- Geschrei in der virtuellen Gladiatoren-Arena an mir vorbeizieht.
Auf dem Weg zu meinem Briefkasten bei web.de war ich darüber gestolpert. Michael Schumacher. Liveticker.
Hä? – fährt der wieder? Hatte der nicht aufgehört? Ist da heute irgendsoein Rennen?
Na egal.
Auf dem Rückweg schau ich doch nochmal vorbei und bin fassungslos. „Stirb! Stirb! Stirb!“, schreit es. Michael Schumacher hatte einen schweren Skiunfall und stirbt vielleicht. Und zu genau diesem Geschehen gibt es einen Liveticker. Einen L-i-v-e-t-i-c-k-e-r! Erst stolpere ich bei web.de darüber, dann bei focus.de. Umrahmt von gezwitschertem Promi-Palaver. Was Pocher, Poldi, Boris und Co. dem tollen Freund und Champion alles Gutes wünschen. „Halte durch!“. Stirb! Jetzt braucht es den nächsten Schritt. Die Ziellinie des Champions. „Stirb, mein Freund. Ich möchte so gerne der Welt zeigen, wie sehr ich Anteil nehme.“ Anteilsnehmer. Anteilseigner.
Ein „Journalist“ hat diesen nächsten Schritt schon praktisch angedacht. Da hat ein „Mensch“ eine „Super-Idee“, wie er an ein Sterbe-Foto kommt. Als Priester verkleidet. Wie zur letzten Ölung. Und dann wird mein Foto um die Welt gehen! Und mit ein bisschen Glück rennen plötzlich aufgeregte Weißkittel an mir vorbei! Schubsen mich zur Seite! Wegtreten! Stromstoß! Fdommp! 0-Linie auf dem Monitor. Dauerton.

Er hat zum Glück das Glück nicht. Er wird erwischt.
Andere werden es anders versuchen. 50000  für den, er es schafft.
Stirb! Wir wollen die Ziellinie, den Champion, den Crash.

Was mich erschreckt: Heute Nacht wird mir klar: Ich bin Teil von diesem „Stirb!“

Irgendein Scheiß-Höhepunkt in der Scheiß-Handlung eines Scheiß-Traumes lässt mich aus dem Schlaf schrecken. Metallisch müde brennende Augen. Unerfüllte Sehnsucht nach Schlaf. Die äußere Schicht der Augenlider zerrt die Haut nach unten. Eine innere Schicht zerrt sie nach oben, reißt auf, wie vor Schreck, weil etwas auf sie zustößt.
Ich bin wütend, leidend. Will schlafen. Was soll das? Schreck. Augenlider auf, zu, Drehen, Wälzen. Rasender Gedankenlärm.
Allmählich öffnet sich die Finsterwelt. Ich drehe mich auf den Rücken, nehme hin, wach zu sein, lasse die Gedanken strömen.
Zum Beispiel zu meinem Zorn über den medialen Schumacher-Hype. Voller böser Bitterkeit sehe ich irgendeine Promi-Schnepfe, die sich schnell noch in Mailand ein schwarzes Dolce-&-Camorra-Kostümchen nähen lässt. So richtig geil schlicht. Für die Beerdigung. Oder irgendeinen Freund der Familie, der am Morgen trotz des Regens die  Sonnenbrille von – wie heißt die angesagte Marke?, sagen wir: „Cripton“, und es ist ihm verdammt bewusst, dass es die Cripton ist, denn nur die geht heute Morgen, alles andere geht gar nicht – aufsetzt, damit man glaubt, er wolle seine verweinten Augen verbergen.
Auch ich steigere mich hinein in dieses virtuelle Gladiatoren-Arena-Daumen-Runter. Stirb!

Wie bloß kann man in diesem Sog Anker werfen? Innehalten? Wieder menschlich werden? Einfach fühlen?
Das Brennen hinter den Augen wird schwächer. Die Finsterwelt milde. Die Glieder werden schwer. Müdigkeit hilft, aus dem Sturm heraus zu driften.
Möge das Koma der Kokon sein, der diesen Menschen vor dem Blitzlichtgewitter der virtuellen Mitgefühls-Raserei an der Ziellinie schützt. Möge dieser Mensch nicht von elektronischen Entladungen getötet werden.
Stirb nicht!
Schlafe.