Ich besuche wie jeden Donnerstag meine Mutter im Altenheim. Als ich durch die erste Tür bin, stehe ich in der Halle, die ich sonst einfach nur durchquere, mitten in einer Veranstaltung. Die alten Leute sind alle versammelt. Vorne auf einer angedeuteten Bühne steht ein älterer Herr, der alte Schlager singt. Seine noch dichten weißen Haare, sein dezenter Schick, sein geübter Ton im Umgang mit dem Publikum. Er macht das nicht zum ersten Mal. Meine Mutter mitten im Publikum. Sie ist, wie viele hier, schon sehr weit entschwunden ins Land des Vergessens. Die Frauen und Männer, viele von ihnen in Rollstühlen, sind eingeladen mitzusingen. Sie tun es auch. Auch meine Mutter. Immer wieder blubbern Fragmente von Silben und Tönen aus ihren Mündern. Klingende Seifenblasen, die einen Moment durch den Raum schweben und dann versiegen.
Dann stimmt er dies an:
Am Abend wollen wir noch auf ein Glas Wein ins Städtchen. Schon von Weitem hören wir vom Markplatz Fetzen von Musik und verwehtes Stimmengewirr. Als wir da sind, erleben wir eine feiernde Menschenmenge. Eine Bühne ist aufgebaut. Auf ihr eine Band. Ein Frontmann. Aufgemacht. Irgendwas zwischen Rex Gildo und Hardrockstar. Rechts von ihm zwei Tanzmäuschen. Mit hautengen Glitzer-dresses. Sehr weit ausgeschnitten. Sehr, sehr weit. Sehr kurze Hosen. Sehr, sehr kurz. Rhythmisch bewegte Titten und Ärsche. Auf demselben Platz, auf dem noch vor ein paar Wochen Hunderte von Menschen vor der Kirche standen und schweigend dem Trauergottesdienst um die Schülerinnen und Schüler folgten, die bei dem Flugzeug-Unglück zums Leben gekommen waren.
Jetzt aber bellt der Frontmann: „Ich will Haltern feiern sehen!! Ich will die Hände oben sehen!! Ich will Euch hören!!“ Es gelingt. Er ist sichtbar zufrieden. Mit dem ganzen Markplatz singt er „Atemlos durch die Nacht“.