Die città von der traurigen Gestalt
Als wir uns in den frühen Morgenstunden wieder auf den Weg machen, schauen wir erst wieder mehr zurück als nach vorn. Der Morgendunst hat die Aragoner-Burg auf Ischia, die wir gestern erleben durften, sanft eingehüllt, als wolle er sie vor dem scharfkantigen Tun des hellichten Tages schützen. Fast bin ich froh, dass ich schreibe und Fotos mache. Sonst könnte dieses Heiligtum sich womöglich selbst aus profaner Erinnerung tilgen, um sich zu schützen.
Je mehr die Burg sich im Hintergrund versteckt, um so klarer werden die Konturen von Castellammare di Stabia. Und umso klarer wird, dass wir uns dem Gegenentwurf zur Idylle nähern, aus der wir kommen. Große Gebäude, Werfthallen, Kräne, dichte Bebauung. Aus 5 Meilen Entfernung noch beeindruckend. Mit jeder Meile, die wir näher kommen, sehen wir deutlicher: marode Melancholie. Offenbar segeln wir gerade in die Città von der traurigen Gestalt. Dass es irgendwie passend ist, dass hier unser Schiff vier Tage liegen wird, wenn wir zur Beerdigung meines Vaters aufbrechen, – diesen Gedanken haben wir und finden ihn kitschig. Umgekehrt romantisch. Eigentlich Blödsinn. Aber er stimmt ja doch auch.
Der Mann, der uns am Steg empfängt und einweist, passt zu dieser Melancholie. Auf schöne Art. Er ist ernst. Schweigsam. Sucht Blickkontakt mit einem Hauch von Lächeln. Er ist vielleicht 50-55 Jahre alt. Sein Gesicht erzählt von Schmerz, aus dem er aufgetaucht ist. Sein Hund, der wie ein treuer Stegbegleiter ihm folgt, hat ihm bestimmt dabei geholfen.
Wir zwei traurige Gestalten durchstreifen diese Stadt ein wenig. Diese Art von Bewegen kennen wir nicht. Es ist kein Besichtigen, kein Schlendern, kein Flanieren. Es ist ein hilflos schwimmendes Treiben. Wie zwei alte Stücke Holz in brackigem Hafenwasser mal hier, mal da hin schwappen. Vor die Reste eines Festmachers an einem verrosteten Ring und von da wieder zurückgeschubst. Diese Stadt hat es nicht verdient, besichtigt zu werden. Sie hat Besseres verdient. Respektvolle Begegnungsversuche. Vorsichtiges Betrachten der Narben. Noch vorsichtigeres Betrachten der Stellen, die noch davor sind Narben zu sein. Große, rissige Löcher im Putz der Basilika.
Außen und innen.
Hohläugige Reste alter Landungsbrücken. Boote, die die Seele schon verkauft haben und mutlos in alten Seilen hängen. Straßenbahnschienen, die im Asphalt enden und zu nichts dienen, als von Zeiten zu erzählen, in denen man hierhin wollte. Zierlose Kübel, in denen selbst das Unkraut vertrocknet ist. Große Wohnhäuser mit Balkongittern aus Rost, in denen sich das leise Wimmern der noch verbliebenen Putzreste mischt mit Kinderkichern, Radioschrebbeln, Prontorufen, Platzlachern, Lustschimpfen. In der verfallenden Basilika zünden wir zwei Kerzen an. Das heißt hier: Wir legen einen kleinen Kippschalter um und zwei schräg dahinter liegende Birnen auf Stümpfen im Kerzenlook glimmen auf.
Mir fällt eine Szene aus Nettuno wieder ein. Noch recht früh am Morgen saßen wir im Cockpit. Dann ein Motorengeräusch. Wir drehten uns um. Eine xhundert-PS-Schwanzverlängerung mit aggressiv vorgestrecktem Bug bubberte gerade frisch geputzt aus dem Hafen. Am Steuerrad ein Rolex-Glatzkopf, leicht vorgebeugt. Nestelte am Handy. Wahrscheinlich wollte er vor der Arbeit noch mal schnell raus, – `ne Runde Meer ficken. Kurz nach ihm in umgekehrter Richtung: Ein Fischer kehrte heim von der Arbeit. Er stand auf seinem kleinen Kutter, trug noch die alte verdreckte Ölhose, die ihm bis zur Brust reicht und die ihn wie immer davor geschützt hatte, beim Einholen der Netze klatschnass zu werden. Genau auf unserer Höhe drehte er sich zur Kirche, bekreuzigte sich und drehte sich wieder zurück. Wir winkten ihm mit kleiner Bewegung. Er winkte zurück.
Wir wollen beim Herumstreifen auch nach einem Supermarkt gucken. Wir sehen keinen. Also wollen wir fragen. Aber selbst das ist schwierig. Kaum jemand ist zu sehen. Dann doch eine Dame, die ihren Hund ausführt. Ja, sie kenne einen Supermarkt, nicht sehr weit weg, bezweifle aber, dass er jetzt schon auf sei. Es ist 5 Uhr nachmittags. Aha, die Grenze zwischen Mediterranien und Mezzogiorno verläuft also irgendwo zwischen Ischia und Castellammare di Stabia. Immerhin erfahren wir den Namen des Hundes: Maccenuto. Die Dame spricht ihn häufiger an. Als wäre er Teil unserer Konversationsrunde.
Wir trudeln in eine Bar. Sie ist schmucklos, kühl, sachlich. Längs durch den schmalen Raum hindurch eine Theke. Am Anfang ein Zigarettenregal, dann die Kaffeemaschine. Dahinter rechts der sinnlos vor sich hin dudelnde Fernseher. Eine Vitrine mit drei heimatlosen Cornetti. Ein Stückchen weiter ein offenes Hinterzimmer mit Spielautomaten, Daddelkisten, die regelmäßig kleine Lockmelodien in die Bar kullern lassen. Suchtbude. Der Espresso-Mann ein smarter, schick frisierter, bodygebildeter, muss noch erwähnt werden: tätowierter? Mann. Seine Bewegungen haben lustvollen Schwung. Jede Geste Teil eines Tanzes. Wie der Ellenbogen ausschwingt, wenn der Arm den Kaffeepulver-Träger am Griff über einen Widerstand hinweg zum Einrasten bringt. Wie die Finger zielsicher zum Stapel der schweren Tässchen schwirren und eine von ihnen unter den doppelläufigen Ausfluss fliegen lassen. Der Espressotango des Kaffeemachers scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein zu der maladen Stadt. Am Abend aber, als die Menschen ins bunt beleuchtete Dunkel mit buntem Glimmer-Zuckerguss schwirren, essen, plappern, lachen, verstehen wir: Der Espressotango war ein kleines Vorspiel zum abends erwachenden Leben hier. Eine sterbenslebendige Stadt verschluckt zwei lächelnd ratlose Touristen von der traurigen Gestalt.
Die sich die Frage nicht mehr stellen, ob sie sich diesen Reise-Gewaltakt Flug-Leihwagen-Hotel-Beerdigung-Auto-Rückflug wirklich antun wollen. Denn die Antwort war ja schon tausendmal und überzeugt: Ja. Dass wir die Frage trotzdem immer wieder von neuem stellen, ist Angst. Und dass wir sie immer mit Ja beantworten, ist richtig. Wahrscheinlich gerade wegen der Angst.