Wir müssen reden
Kann man jetzt – BITTE!! – mal aufhören zu schreiben oder zu sagen: „Die Ungeimpften“. Das hört sich an wie der matschmuskelige Titel eines Comedy-Musicals. Nur dass es nicht um ein Unterhaltungsevent mit Fun-Garantie geht, sondern um wirkliche Menschen in unserer wirklichen Welt, der wirklichen Umgebung einer/s Jeden von uns.
Bitte noch dringender aufhören mit: „Die Impf-Verweigerer“. Oder: „Die Impf-Gegner.“
Alle diese Bezeichnungen tragen in sich die Selbstverständlichkeit einer Pflicht, deren „Verletzung“ allein schon Verwerflichkeit atmet. So wird etwas unter der Hand zu einklagbarem staatskonformem Verhalten erklärt, was noch gar kein Gesetz ist, als würden diese Begriffe im Vorgriff auf eine gewünschte Zukunft ein Gesetz vorab kreieren.
Wenn ich mich frage, warum das für mich so schwer zu ertragen ist, finde ich keine einfache Antwort. Ich registriere die diesen Begriffen innewohnende Spaltung. Hier die Vernünftigen, die Verantwortungsvollen. Dort die, die sich dagegen wehren. Beides falsch. Weder sind die, die sich impfen lassen, per se vernünftig, noch sind die, die sich nicht impfen lassen, per se rebellisch. Nicht einmal gibt es in der wirklichen Wirklichkeit diese „Gegner“-Gruppen überhaupt in scharfer Abgrenzung voneinander. Ich unterstelle, dass die meisten Menschen, die sich gerade mit der Frage beschäftigen, ob sie sich impfen lassen oder nicht, von ähnlichen Fragen, Sorgen, Wünschen, Unsicherheiten angeschoben werden. Dabei lasse ich die Lautsprecher*innen außen vor. Sie sind für eine konstruktive Debatte unwichtig.
Ich kenne die Gründe, weshalb ich mich habe impfen lassen. Und ich weiß, welche Zweifel mich dabei begleitet haben. Auch kenne ich von einzelnen Menschen – und sie sind alle keine Spinner*innen – die Gründe, weshalb sie sich im Moment nicht impfen lassen.
Wenn sie schon in die Spaltung hineineskaliert sind, bemühen beide Gruppen gerne den Begriff der Freiheit. Großes Geschütz!
Da wird eine gewöhnliche Kuh schnell mal heiliggesprochen, dann auf zu dünnes Eis gezerrt, und die anderen sind dann schuld, wenn die Misere auffällt.
Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten, wird mit zunehmender Schärfe entgegengehalten, die Freiheit, die sie sich nähmen, sei zwar im Prinzip grundgesetzlich gesichert, würde aber in Frage gestellt dadurch, dass sie mit ihrer persönlichen Freiheit die Freiheit einer großen Mehrheit anderer – der Geimpften – beschränken würden. Dieses Gedankengebäude, das so zwingend rational erscheint, wird rissig, wenn man es auf andere Bereiche freiheitlichen Verhaltens überträgt. Unser aller tägliches ‚freiheitliches‘ Konsumverhalten schränkt ganz automatisch und selbstverständlich die Freiheiten von Millionen anderer Menschen ein. Jedes Smartphone, das ich kaufe, schränkt ein die Freiheit von Tausenden von Menschen – oft genug Kindern – , die das für den Akku notwendige Kobalt z.B. in der „demokratischen“ Republik Kongo z.B in dubiosen Minen, die im Besitz von dubiosen Geschäftsleuten sind, mit einfachsten Handpickeln von den Wänden kratzen und mit bloßen Händen aus den abgebrochenen Geröllmassen herausklauben, schlecht bis gar nicht gesichert, gekrümmt und in dauerndem Körperkontakt mit einem potentiell gesundheitsgefährdenden Stoff und mit einer Bezahlung von weniger als dem Mindestlohn, der im Kongo ohnehin lächerlich klein ist. Nutznießer dieses „Deals“ ist ein korruptes Regime, das sich mit Gewalt an der Macht hält.
Wenn wir in Bangladesch produzierte Kleidung kaufen, – wessen Freiheit schränken wir ein?
Wessen Freiheit, wenn wir tanken?
Wessen Freiheit, wenn wir Fleisch aus Massentierhaltung essen?
Wessen Freiheit, wenn wir zulassen, dass unsere Kinder in maroden Schulen unterrichtet werden und dass in diesen Zeiten womöglich für genau diese Schulen kleinliche Diskussionen geführt werden müssen, ob sie ein Luftfilter-Gerät anschaffen dürfen oder nicht? Während wir gleichzeitig zulassen, dass ein Autokonzern für das Corona-Jahr 2020, in dem er 5 Milliarden Euro (=5 000 000 000 €) Gewinn erwirtschaftet hat, Hunderte Millionen staatliches Kurzarbeitsgeld erhält und gleichzeitig seinen beiden Hauptaktionären (1 Mann, 1 Frau) rund 770 Millionen € Dividende bezahlt?
Wessen Freiheit, wenn wir darauf bestehen, wie gewöhnlich weiter zu konsumieren, zu bauen und Flächen zu verbrauchen, um sie zu versiegeln?
Die Freiheit zum Beispiel der 62 Millionen Menschen, die in den 52 Insel-Staaten leben, die durch den Klimawandel nur noch begrenzt bewohnbar sein werden, wenn sie nicht gar ganz verschwinden?
Und wir wollen uns dann beschweren, dass Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten, unsere Freiheit einschränken? Nicht sehr glaubwürdig. Im Einschränken der Freiheit anderer haben wir alle eine Menge „Erfahrung“.
Und umgekehrt. In der eskalierten Debatte finden sich Menschen, die sich nicht impfen lassen, plötzlich wieder in Gedankenketten, mit Hilfe derer sie die Gefahren und Bedrohungen, die mit der Pandemie eingehergehen, vor sich selbst und anderen kleinargumentieren können, weil sie in der aufgeheizten Debatte glauben, es zu müssen. Es habe keine besonders große Übersterblichkeit gegeben. Die tatsächlich besonders bedrohte Bevölkerungsgruppe (Menschen über 75) könne man doch auch anders schützen. Der Impfstoff sei ja nun mal neu und noch nicht Langzeit-getestet. Das Impfrisiko sei also nicht seriös abschätzbar. Unser Immunsystem habe gar keine ausreichende Gelegenheit bekommen, die Bekämpfung dieses neuen Virus zu lernen. Und viele weitere ähnliche Denk-Muster mehr. Die Widersprüchlichkeiten, die politische Entscheider*innen beinahe zwangsläufig tagtäglich produzieren, kann man dann noch also weiteres Argument gegen das Impfen hinten anfügen. Und schließlich kann man die oft klug begründeten skeptischen Einlassungen hochdekorierter Fachleute bemühen, um den Promi-Status-Fachleuten der sogenannten Mainstream-Medien ebenso gewichtige Persönlichkeiten entgegenzusetzen.
Wenn bei meinen bisweilen ausufernden Recherchen in den letzten 21 Monaten eines herausgekommen ist, dann dies: Keine der beiden Denkrichtungen kann widerspruchslos schlüssig zu Ende argumentieren, weshalb welche Entscheidung richtig sei.
Was man aber versuchen kann ist, sich menschenfreundliche Rationalität zu bewahren. (Was in der Umhüllung durch ausuferndes mediales Getöse allerdings nicht einfach, bisweilen gar unmöglich ist.) Eine solche Art von Rationalität hat mich persönlich dazu geführt, dass ich mich habe impfen und jetzt auch boostern lassen. Sie hat dazu geführt, dass ich mit einiger Überzeugung die empfohlenen Verhaltensregeln einhalte. Sie hat dazu geführt, dass ich lange Zeit Veröffentlichungen über die Bewertung der sogenannten „Corona-Maßnahmen“ hinterherrecherchiert habe, solange, bis sie dazu geführt hat, genau das grundsätzlich nicht mehr zu machen. Sie hat aber eben auch dazu geführt, dass ich nach 4 Wochen Lockdown im Frühjahr 2020 zu der Erkenntnis gelangt bin, so nicht leben zu wollen. Im Einverständnis mit meinen Kindern, meinen Enkeln und meinen engsten Freunden ein erhöhtes Risiko mit ihnen zusammen wieder eingegangen bin, um sie sehen, sie anfassen, sie umarmen, mit ihnen spielen, plaudern, reden, diskutieren zu können. Ergebnis rationaler Abwägung für mich, für uns. Ja, ich nenne das „Rationalität“, obwohl da eine Menge Gefühl im Spiel war. Denn zur menschlichen Rationalität gehört mehr als „nur“ die Logik des Infektionsgeschehens bzw. der Notwendigkeit, es einschränken zu müssen. Mehr als die Zahlen, mit denen wir das Infektionsgeschehen und seine Auswirkungen beschreiben und prognostizieren. Mehr als die Zahlen, die uns – diese kleine Polemik sei erlaubt – womöglich in gar nicht so ferner Zeit nahelegen, uns einmal im Monat boostern zu lassen. Und zu dieser Rationalität gehört – finde ich – auch, sich nicht gegenseitig auf zu dünnem Eis stehende heilige Kühe vorzuführen, sondern sich darüber zu verständigen, wie zutiefst verunsichert wir alle sind, mit welchen Absurditäten wir alle kämpfen, zu welchen Entscheidungen wir auf Grund welcher Abwägungen kommen und von welchen Zweifeln sie begleitet sind.
Wenn ich diese Art von Rationalität zu Rate ziehe, kann ich einer Impflicht, obwohl ich selbst geimpft bin, nicht zustimmen.
4 Gründe.
- Inzwischen sagen eigentlich alle Fachleute – auch die, die für eine Impfpflicht sind -, dass die Herdenimmunität, von der am Anfang der Pandemie noch die Rede war, und von der man damals überzeugt war, sie mittels Impfung zu erreichen, nicht erreichbar ist. Einfach deshalb, weil auch Menschen, die geimpft sind, weiterhin in durchaus großer Zahl ansteckend zur Verbreitung des Virus beitragen können. Ein wesentlicher der Impfung zugesprochener Effekt wird sich nicht einstellen, – auch nicht mit einer Pflicht. Kann man dann trotzdem noch eine so einschneidende Maßnahme rechtfertigen?
- Der Anteil derer, die sich nicht haben impfen lassen (wollen oder müssen), ist größer, als vor und zu Beginn der Impfungen gedacht. Die Gründe dafür sind meiner Meinung nach nicht genug erfasst und in gezielte Adressaten-genau konfigurierte Impfkampagnen umgesetzt worden. Das mindestens müsste vor der „Keule“ einer Pflicht geschehen. Die Gründe, weshalb Menschen sich nicht impfen lassen, sind so vielfältig wie die Gesellschaft eben ist. Sie reichen von tief verankerten professionell und rational entwickelten Überlegungen und Überzeugungen über unzählige Erscheinungsformen bis hin zu ebenso tief verankerter Unentschlossenheit als durchgehendes Lebensmotiv. Ich kann nicht erkennen, dass es in großem Stil Anstrengungen gegeben hat, die Menschen, die nicht geimpft werden möchten, persönlich in ihrem Lebens- und Gedanken-Umfeld zu erreichen.
- Seit die Argumente der Herdenimmunität und die Phantasie, die Pandemie mithilfe des Impfens „zu besiegen“ auch in der öffentlichen Debatte mangels Schlüssigkeit nicht mehr oft zu hören sind, hört man umso öfter das Argument, dass den Intensivstationen und den Menschen, die dort arbeiten, Überlastung drohe. Manchmal wird gar von einer Überlastung gleich des gesamten Gesundheitssystems gewarnt. Letzteres können wir wohl getrost ignorieren. Die drohende Überlastung der Intensivstationen aber ist in der Tat beunruhigend. Eine angemessene rationale Reaktion darauf wäre – und das mag jetzt viel zu simpel klingen – die Kapazitäten zu erhöhen. Indem man neue schafft bzw. die Auslastung der Intensivstationen überregional managt. Und zwar nicht erst dann, wenn man gezwungen ist, begleitet von dem üblichen medialen Tam-Tam, schwerkranke Menschen mit einem respekteinflößend und bildgewaltig voluminösen Bundeswehrflugzeug durchs Land zu fliegen. Den Einwand, dass so viele Pflegekräfte abgewandert wären, lasse ich nicht gelten. Auch dafür gibt es Gründe, die man bearbeiten kann. Auch hier gilt, meine ich: Solange das nicht sichtbar und mit – auch finanziellem – Engagement geschehen ist, wäre eine Impfpflicht unangemessen.
- Eine Impfpflicht wird aus ihrer Perspektive denen Recht geben, die jetzt laut und mit bisweilen nur noch schwer hinnehmbarer Sprache und kaum oder gar nicht akzeptablem Handeln gegen Corona-Maßnahmen protestieren. Sie werden in ihrer Haltung gefestigt. Diejenigen, die ihnen nahestehen, werden ein weiteres Argument bekommen, noch näher an sie heran zu rücken.
Die Menschen, die bezweifeln, dass es diese Pandemie überhaupt gibt, werden schwer von etwas anderem zu überzeugen sein. Ebenso wenig die Menschen, die dieses Thema benutzen, um nationalsozialistische Ideologie nach vorne zu bringen. Ich weiß nicht, wie hoch der Anteil dieser Menschen an der Gesamtbevölkerung ist. Vielleicht 10%? Ich denke, eher weniger.
Alle anderen halte ich für erreichbar. Allen anderen unterstelle ich, dass auch sie, wie ich selbst, in ihrem Leben versuchen, sich eine Rationalität zu bewahren in dem Maß, wie es ihnen eben möglich ist. Was nichts anderes heißt, als Dinge, die für ein Begrenzen der Infektionsdynamik notwendig sind oder scheinen, in Einklang zu bringen mit persönlichen Haltungen, Grundausrichtungen, Überzeugungen, Ängsten, Unsicherheiten. Da gilt es anzusetzen. Wir müssen eben reden. In privaten wie in politischen Räumen. Und erst, wenn die dabei gepflegte Kultur erkennbar nicht reicht, können und sollten wir alle zusammen über Impfpflicht diskutieren.
Alles das wird durch solche Begriffe wie „die Ungeimpften“ oder „die Impfverweigerer“ verdampft. Wenn wir feststellen, dass das, was wir tun, nicht reicht, ist dann nicht die rationalste Schlussfolgerung, mehr zu tun und vielleicht anderes? Anstatt sich von der scheinbar einfacheren Lösung einer verpflichtenden Verfügung verführen lassen?
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