Oder: Freudlos empörtes Mäandern zwischen Verbot und Erlaubnis
Ich höre mich mit Inbrunst sagen: „Das habe ich doch gar nicht so gemeint. Ich wollte dich nicht verletzen.“ Der leuchtlose Blick meines Gegenübers verglimmt zwischen einsehen Müssen und nicht gehört Fühlen. Das Ja in mir sagt: Es zählt, was ich meine (nicht was ich sage und nicht, was ankommt).
Es regnet in Strömen. Ich stehe an einer viel befahrenen Straße und will sie überqueren. Die Stelle ist dafür vorgesehen. Der Bordstein ist an dieser Stelle abgesenkt. In der Mitte der Straße eine Verkehrsinsel. Auf der Verkehrsinsel ein asphaltiertes Wegstück. Der Bordstein gegenüber ebenfalls vertieft. Neben mir eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern. Mit einer Hand steuert sie einen Kinderwagen. Mit der anderen Hand versucht sie trotz des regelmäßig aufwallenden Windes einen Regenschirm in der Position zu halten, dass er sie selbst schützt und zugleich das etwas ältere Kind, das eine Hand am Kinderwagen hat. Mama hat ja keine mehr frei. Vor uns strömt fauchend der Verkehr vorbei. Kein Auto hält. Ich wundere mich. Eigentlich ist es doch üblich, dass Autos an Fußgängerüberwegen halten. Erst nach einer ganzen Weile wird mir klar, warum. Hier ist zwar ein Fußgängerüberweg, aber kein Zebrastreifen. Also müssen Autofahrer:innen nicht halten. Es gibt kein Verbot, weiterzufahren. Also eine Erlaubnis. Wenn wir uns dem Regen nicht weiter ausliefern wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als „the Italian way“ zu gehen: Ganz langsam immer weiter vor, bis sich ein:e Autofahrer:in erbarmt und hält. Immer eine kleine Mutprobe. Aber sie funktioniert auch hier irgendwann. Die Autofahrer:innen haben die Erlaubnis weiterzufahren. Sollen wir uns wünschen, es gäbe ein Gesetz, dass das Weiterfahren auch an Fußgängerüberwegen ohne Zebrastreifen verbietet?
Manchmal gibt es öffentliche Ächtungen von diskriminierenden Aussagen. Zuletzt z.B. bei den beiden Fußballern Jens Lehmann und Dennis Aogo. Der Empörung folgt die öffentliche Entschuldigung in dieser Art: Ich wollte mich nicht diskriminierend äußern. Wenn sich doch jemand verletzt fühlt, tut mir das leid. Freudloses Ich-entschuldige-mich-mal-besser. Kühles Abwimmeln ohne Selbstkritik. Ohne Anerkennung möglicher Verletztheit. Der öffentlichen Empörung wiederum folgt die wütende Gegenbewegung, die ein Verbot von diskriminierendem Sprechen und Cancel Culture wittert. Der Empörung über die Empörung folgen von Anfang an Informations-Medien mit offener Schnüffelnase auf der Suche nach Erregungs-Pilz-Kulturen, die sich vermarkten lassen. All dem folgen wir. Das Ja in uns sagt Ja zur Freude an der Freudlosigkeit.
In diesen viralen Zeiten war viel von Solidarität die Rede. Aufrufe von Politiker:innen beschwörten „Wir schaffen das nur gemeinsam“. Medien verstärkten den Aufruf. Pflegten ein romantisches Gefühl von Zusammengehörigkeit. Feierten Menschen, die an Fenstern standen und für Helfer:innen in der Not Beifall klatschten und manchmal gar sangen. Das Bild war so wirksam, dass ich oft ein schlechtes Gewissen hatte, wenn ich wieder einmal dachte: Ja – wir wissen von Solidarität, aber gespürt habe ich sie in diesen pandemischen Zeiten eigentlich nicht. Ich habe nur gespürt, dass sich erfreulich viele Menschen an die ausgerufenen Regeln hielten. Nicht aber, dass sie dies aus Solidarität taten. Zu oft habe ich anderes erlebt: Doch schnell mal dicht an der Schlange vorbeidrücken. „Ich wollte nur eben was fragen“. Am Joghurtregal dicht neben mir stehen, um unter den 200 Sorten den Lieblingsjoghurt ungeduldig drängend zu suchen und dann schnell zu greifen. Im Eingang stehen, um auf keinen Fall den Moment zu verpassen, an dem man dran ist und damit Abstand für die Herausgehenden unmöglich zu machen. Mundschutz lässig locker unter der Nase tragen. Tausende kleiner Alltags-Gesten, die die Regeln zeigten und den Umgang damit, nicht aber ein „Ja“ zur Solidarität. Gerade jetzt aktuell: Nicht wenige Menschen gehen nicht zu einem Impftermin, ohne sich abzumelden. Vielleicht haben sie mehrere Termin gebucht und nun den frühesten gewählt oder den mit dem ihrer Meinung nach besseren Impfstoff, oder den, der am nächsten war. Das Ja steht für meine Möglichkeiten, meine Auswahl, meinen Konsum. Immer das Beste für mich. Nicht für Solidarität, denn die würde verlangen, dass ich im Sinne der Entlastung von Hausärzten und Impfzentren und im Sinne der Hilfe dabei, keinen Impfstoff vernichten zu müssen, einen Termin buche und ihn dann auch wahrnehme. Ich muss das aber nicht. Es gibt also eine Erlaubnis, mich eben nicht solidarisch zu verhalten. Da sich kaum bestreiten lässt, dass ein solches Verhalten unsolidarisch ist, denken viele – auch Politiker – über eine Strafe für „Impfschwänzer“ nach. Wieder würden dann die Menschen sich korrekt verhalten, aber nicht solidarisch. Andere würden sich unkorrekt verhalten und hoffen, dass sie nicht erwischt werden. Andere würden sich offen lauthals schimpfend unkorrekt verhalten, das Gegenteil der Regel zu ihrem Recht erklären. Allesamt freudlos mäandernd zwischen Erlaubnis und Verbot.
Anton Hofreiters Hinweis, dass in unserem Land das Ideal des Eigenheims in mancherlei Hinsicht Geboten des Klimaschutzes und des bezahlbaren Wohnraums widerspricht und man langfristig möglicherweise andere Wohnformen entwickeln muss, wurde großflächig als Vorhaben eines Verbotes umgedeutet. Es wurde ein Verbot kreiert, wo gar keins war. Nur ein nachdenklicher Hinweis. Als wollten die Menschen ein Verbot. In diesem Fall, um sich dagegen wehren zu können. Nicht wenige Politiker schürten dies. Nicht die Grünen wählen. Sie sind die Verbots-Partei. Schimpfen gegen ein Verbot, das es gar nicht gibt, um dagegen sein zu können. Eine absurde Konstellation: Der Wunsch, ein Verbot zu haben, um es verneinen zu können, ist ein Ja zum Verbot, das man verneint. Mäandern.
Wir diskutieren die Frage, wie man beim Sprechen und Schreiben abbildet, dass es mehr gibt als „männlich“ und „weiblich“, als Frage, welche Sprechweise angemessen wäre. Wir phantasieren bei der Diskussion das Verbot einer unangemessenen Sprechweise. Und regen uns auf.
Wir verlangen bundeseinheitliche Bestimmungen beim Versuch, die Ausbreitung von Covid 19 zu begrenzen. Dann bekommen wir sie und regen uns auf.
Oder bekommen sie nicht und regen uns auf. Und kommentieren höhnisch.
Wir verlangen mehr Schnelltests. Dann bekommen wir sie. Sogar bei ALDI. Dann kriegen wir keine, weil sie schon ausverkauft sind. Und regen uns auf. Viel zu wenige!!
Wir dürfen in den Baumarkt, aber nicht ins Sportgeschäft und regen uns auf.
Wir schlagen die Zeitung auf oder klicken das Nachrichten-Portal. Ab morgen dürfen wir. Ab morgen dürfen wir nicht. Und regen uns auf.
Wir wollen keine Widersprüche und verlangen gleichzeitig Regeln, die ohne Widersprüche gar nicht möglich sind.
Unser Ja steht fast immer für „Ich“. Fast nie für „Lösung“. Im Kleinen wie im Großen. Es freut sich über Erlaubnis und regt sich auf, wenn es begrenzt wird. Obwohl es durchaus Ideale hat. Zum Beispiel Gerechtigkeit oder Frieden oder Mitmenschlichkeit oder Klimaschutz oder Tierschutz oder kulturelle Vielfalt. Aber diesen Idealen gönnt unser Inneres nur ein „Ja schon, aber“, oder ein „Nur wenn“, oder ein „was soll das bringen, wenn “, oder ein „Ja, demnächst wirklich mal“. Immerhin: Bei diesen „Jains“ bleibt wenigstens manchmal ein schlechtes Gewissen. Dagegen wehren wir uns wieder freudlos und fordern ein Verbot, oder eine andere „gesetzliche Regelung“. Am liebsten für andere. Die sich dann über das Verbot empören.
Ich wünschte, wir könnten freudvoll gehen, inspiriert von einem „Ja“. Gelenkt von der Erkenntnis: Ich selbst schreibe meine Geschichte, die unserer Gesellschaft und – ja! – die Geschichte unserer Welt. Wir könnten „Ja’s“ suchen. „Ja’s“, die am schönsten sind, wenn sie alles zugleich bedenken: Das Ich und das Du und die Gesellschaft und die Welt. „Ja’s“, die anschieben, die Lösungen suchen, die die Vielheit und die Komplexität und die Widersprüchlichkeit von Problemen anerkennen, nicht leugnen.
Wir könnten suchen eine Vielheit und Komplexität von Lösungen, jenseits von der freudlosen, eben nicht schönen Einfachheit der Fixierung auf Verbot und Erlaubnis.