Tag 3 [12.07.]
Entschleunigung in Echtzeit.
So jung und schon so warm ist dieser Morgen. Ich trete hinaus auf die Terrasse. Tasse Kaffee in der einen, Sudoku in der anderen Hand. Das, was ich gestern abgebrochen hab, weil es mir zu zäh wurde. Sonne oder Schatten? Kurzer Test. Ein Schritt ins gleißende Hell, schon umfängt mich die Sonne mit glühender Leidenschaft. Ich lass sie mich durchströmen und zieh mich schnell in den Schatten zurück. Richte mich auf zwei Stühlen ein. Die Logistik der Bewegungsabläufe verlangt genaueste Planung. Wie muss ich sitzen, dass es bequem ist? Dass die Holzstreben des Gartenstuhls sich nicht zu hart in den Hintern quetschen. Dass ich ohne großen Bewegungsaufwand an den Kaffee komme. Dass das Handy-Display mit dem Sudoku gut lesbar ist. Ich finde eine Haltung und tauche ein. Wenn hier die 2 hinkommt, dann steht sie auch hier und hier und da ist für die 7 dann nur noch in dem Kästchen … und für die 5 nur noch in dem Kästchen …, nee Moment, wo stand nochmal die 2? Von vorne. Wenn hier die 2 steht…
Die Zeit schmilzt unter dem Tröpfeln der Zahlen-Gedanken. Viel Zeit.
Von ganz weit hinten im Hirn kriecht ein Gefühl heran, das ich erst registriere, als es durch den Zahlenvorhang tritt. In dem Moment weiß ich, dass es schon eine ganze Weile versucht hat, auf sich aufmerksam zu machen. Irgendwas stimmt nicht.
Unwillig wende ich mich vom Sudoku ab. Ziehe Bilanz. Ist es das Knie, das beim Erklimmen der Burganlage etwas zu sehr belastet wurde. Joahh … Ist es der Hintern, der sich jetzt doch gegen die Holzstreben wehrt? Joahh .. Ist es das immer noch zähe Sudoku? Hmmm … Ist es der Kaffee, der über das Grübeln vergessen und kalt wurde? Ist es? Na klar! Vor allem ist es: Mir ist kalt. Der Himmel ist blaublau, die Sonne singt eine lustvolle Hitze-Arie. Und mir ist kalt. Jetzt wird es schwierig. Ist mir so kalt, dass ich bereit wäre, die doch irgendwie einigermaßen gut eingerichtete Sitzposition einschneidend zu verändern? Man kennt das doch. Man verändert eine Kleinigkeit und schon ist alles anders. Unangenehm anders. Lieber so bleiben. Blöderweise lässt sich das mir-ist-kalt-Gefühl nicht mehr wegschieben. Es ist wie beim Pinkeln morgens. Ich werde aufstehen müssen. Aber was könnte ich tun? In die Sonne wechseln? Zu heiß. Anziehen? Och nöh, – zu viel Aufwand. Ich hab’s. Da lag doch irgendwo noch ein unbenutztes Bettlaken. Da könnte ich mich doch…
Plötzlich ploppt ein Insekt auf den Tisch. Wie geht das denn? Ist es krank? Wenn es fliegen kann, muss es doch auch sanft landen können. So ein Tier fliegt doch nicht, sieht irgendwo einen Ort, wo es hinwill, zum Beispiel diesen hier, stellt die Flügel ab und hofft dass es ungefähr da aufknallt, wo es hinwollte, und dass es den Sturz überlebt. Ist es womöglich tot? Ganz vorsichtig stupse ich es an. Sofort fängt es hektisch an zu zappeln. O.k. tot ist es nicht. Es sieht merkwürdig aus: Länglicher schwarzer Körper mit einem einzigen gelben Ringel-Streifen um den Body. Hinterm Insektenköpfchen zwei große, weiß gepunktete schwarze Flügel. Sie sind zu klein für einen Schmetterling und zu groß für kein Schmetterling. Bekanntlich können sich die meisten Insekten ja im Laufe der frühen Entwicklung entscheiden zwischen zwei Existenzen. Libellen z.B. können sich entscheiden: Werde ich Scampi oder werde ich einer dieser Teich-Hubschrauber? Dieses Insekt hier hatte sich anfangs entschieden, Biene werden zu wollen. Als der erste gelbe Ringel um den schwarzen Körper fertig war, sah es ein, dass gelb-schwarz total blöd aussieht, und geringelt auch, und da die Zeit der zwei Möglichkeiten noch nicht um war, entschied es sich noch schnell, Schmetterling zu werden. Aber natürlich war die Frist schon fast abgelaufen und deshalb wurden die Flügel etwas kleiner als normal. Immerhin reichte die Zeit noch, dass der bienenschwarze Body sich zu einem tiefdunklen Blau hin verfärbte. Die Natur hat es schon faustdick hinter den Ohren.
Was wollte ich nochmal? Ach ja … Betttuch holen.
Bleibt immer noch die Frage: Warum plöppt das Tier hier so unbeholfen auf den Tisch? Vielleicht ist es aus dem Bett gefallen. Hier oben im Baum. Wo schlafen Insekten eigentlich? Schlafen die überhaupt? Wahrscheinlich ja schon. Außer Nachtfalter und Glühwürmchen. Und Eintagsfliegen. Die wären ja schön blöd.
Zurück zur eigentlichen Frage. Wo schlafen die Insekten, die schlafen? Wahrscheinlich ja in kleinen Nestern in Bäumen. Aus denen sie dann morgens, wenn sie, total verpennt, wie sie sind, sich einmal falsch bewegen, auf irgendwelche Tische ploppen. Wie sie wohl ihren Schlafplatz finden? Ob es immer derselbe ist? Ob es einer ist, wo sie vor z.B. Eidechsen sicher sind. Aber das geht kaum. Schließlich kommen Eidechsen überall hin. Die können sogar kopfüber an der Decke krabbeln. Klar! Das Insekt baut sein Bett auf einem Blatt am Ende eines dünnen Ästchens. Viel zu dünn, als dass es eine Eidechse halten würde. Natürlich auch so dünn, dass man völlig verpennt schon mal aus dem Nest auf einen Tisch ploppt.
Das Frösteln ist jetzt nicht mehr ignorierbar. Ich stehe auf, um das Betttuch zu holen. Als ich stehe, beschließe ich, mich, bevor ich reingehe, wo es ja auch kühl ist, erstmal einen ganz kleinen Moment in der Sonne aufzuwärmen. Ich setze mich auf eine Stufe. Verbrenne mir fast den Hintern. Wohlige Wärme flutet meine Adern. Es weht ein ganz zartes Lüftchen. Ein Hauch. Kaum erkennbar wiegen sich im Baum vor und über mir einzelne Äste und Blätter. Aber eines zappelt wie verrückt. Wie geht das denn? Ein einzelnes Blatt von ca. 83500 zappelt wie verrückt. Die anderen nicht. Wahrscheinlich sind auf der anderen Seite des Blattes ungefähr 150 Blattläuse und spielen kollektiv Wippen. Ob Insekten spielen? Warum nicht, wenn sie schlafen und auf Tische fallen und gelb-schwarze Ringel blöd finden. Eine Stufe weiter liegt eine Eidechse. Ist liegen überhaupt das richtige Wort? Eigentlich steht sie ja. Nur eben auf allen Vieren. Der Platz gefällt ihr nicht. Sie tappst auf die andere Seite der Stufe. Merkwürdige Art sich zu bewegen. Die Muskeln werden selbst bei kleinsten Bewegungen nicht langsam fließend in Gang gebracht. Nein. Jede Bewegung ist eine kleine Voll-Pulle-Eruption. Selbst wenn der linke Fuß hinten nur ein kleines bisschen erst nach oben und dann nach vorne zuckt. Und dann steht der ganze Körper wieder völlig starr da. Kopf und Hals wie beim Posieren in zwei weichen rechten Winkeln nach oben gebogen. Dann vorne rechts am Fuß irgendeine pieksige Unebenheit. Kurzes Zucken. Fuß nach vorne. Starre. Kopf die ganze Zeit hoch. Das muss voll auf die Halsmuskeln gehen! Von rechts hinten kommt eine Ameise angehetzt. Die ist so vertieft in ihren eiligen Job, dass sie gar nicht merkt, in welcher Gefahr sie schwebt. Noch ist sie sicher. Sie ist am Schwanz der Eidechse. Der übrigens, wie ich jetzt sehe, gar nicht so gemustert ist wie der Rest des Tieres. Er trägt nur ein schmutziges Grau-Braun. Alles andere aber schimmert silbrig in blau-grün-gelben Tupfen. Wenn sich jetzt dieses Riesenmonster umdrehen würde, hätte die kleine Ameise noch satt Zeit zu fliehen. Aber die dumme Nuss hetzt weiter. Richtung Kopf. Der auch noch leicht in ihre Richtung gedreht ist. Kurz überlege ich, ob ich einfach in die Hände klatsche, die Eidechse verscheuche und der Ameise so das Leben rette. Andererseits: Wenn ich damit jetzt hier oben anfange, mitten im toskanischen Dschungel, dann kriege ich viel zu tun. Jetzt ist die Ameise in Zungenreichweite. Eine kurze Muskeleruption. Rausrein. Weg ist sie.
Aber nichts passiert. Die Eidechse bleibt starr, inklusive Zunge. Die Ameise hetzt weiter. Ob Eidechsen keine Ameisen mögen? Kaum vorstellbar. Es ist schließlich eine toskanische Ameise. Die muss lecker sein. Wie alles hier. Kann natürlich auch sein, dass wir sie irgendwie aus Norddeutschland eingeschleppt haben.
Irgendwas zwickt auf meinem Schädel. Ich fasse hin. Die ganze Kopfhaut brennt. Sollte ich etwa von den paar Minuten in der Sonne schon…? Ich muss sofort in den Schatten. Aber da war es doch zu kalt. Genau, – das Betttuch. Mit einiger Anstrengung überwinde ich die Trägheit und stapfe ins Haus. Wo war nochmal das Betttuch? Ich suche herum. Hier ist es ja noch kühler als draußen im Schatten. Richtig kalt ist es hier. Vor allem die Füße auf dem Steinboden. Vielleicht ziehe ich mich doch besser an. Bevor ich mich hier erkälte. Im Sommer. In der Toskana. Wo liegt denn nur dieses blöde Betttuch?
Die Liebste ist aufgewacht. Ich höre oben ihr barfüßiges Tapsen. Schon kommt sie mir auf der Treppe entgegen. Sie trägt genau die Art von Hemd und die Art von Unterhose, die ich so sexy finde. Wahrscheinlich, weil sie genau das so gar nicht sein sollen. Sie kleiden ja nur den Schlaf. Herrlich warm ist mir, als wir uns umarmen. „Du bist ja ganz kalt“, sagt sie, „warst du die ganze Zeit drinnen?“