Tag 39.2
„Die weiße Hexe“, so werden die etwas ruppigeren Kinder in der Siedlung sie nennen. Die sanfteren vielleicht „Kräuter-Oma“. Kennen werden sie alle hier in der zutiefst unschmucken Kolonie in Essen-Frintrop.
Wir begegnen ihr, als wir wieder mal emschern. Eigentlich wollten wir ein ganzes Stück an der Emscher entlangwandern. Ab Höhe ‚Centro‘ in Oberhausen. Und dann so lange Richtung Bottrop, bis wir keine Lust mehr haben. Schon nach einem Kilometer springen wir auf einen anderen Zug. Eines der Schilder, die immer mal wieder an der Emscher stehen und über Besonderheiten informieren, weist auf ein kleines Biotop hier in der Nähe in zwei, drei km Entfernung von der Emscher hin. Es lockt uns, weil es verspricht, dass hier „Läppkes Mühlenbach“ – ehemals ebenfalls eine Abwasser-Kloake, die dann in die Emscher mündet, – komplett renaturiert zwischen dichten Sträuchern, hohen Bäumen und lauschigen Lichtungen silbrig kullernd durchs Dickicht fließt. Drumherum eine Naturlandschaft, die sich mutig zwischen die Industrieanlagen, die Siedlungen und die Gewerbegebiete hier drängelt. Wie ein Mahnmal mittendrin der Rest der alten Kloaken-Einfassung.
Kaum sind wir auf einem Pfad in das Gebiet hineingeschlüpft, taucht sie auf. Wallendes, langes, sanft gewelltes weißes Haar. Eine schwatte Bollerbuxe. Schon ziemlich verwelkte Turnschuhe. Und ein Mantel in einer Farbe, der man unangemessen schmeicheln würde, wenn man sie beige nennen würde. Oder hellgrau. In ihrer Hand pendelt ein Jutetasche. Faltig, wie sie ist, scheint sie leer zu sein.
Die Dame sieht meinen Fotoapparat und spricht mich an. „Wat wolln se denn hier fotografieren? Die Vögel, die nicht mehr kommen?“ Dabei funkelt sie mich an. Ich schweige einen Moment verduzt und kann ihren Blick nicht deuten. Wenn ich jetzt was sage, denke ich, löse ich womöglich eine kleine Verwirrtheits-Eruption aus.
Aber nein. Sie redet weiter. „Nein wirklich. Gibt ga keine Meisen mehr, dies Jahr. Ich weiß dat, ich geh jeden Tach dahinten hinter die Sträucher die Vögel füttern. Soll man ja nich, san’g se immer. Nur im Winter. Aber ich fütter ja nich. Ich gab ja nur Leckerchen. Dat ganze Jahr. Meisen komm‘ ga nich mehr. Und seit die von’n Baum gefallen sind, kommt dat Rotkehlchen auch nich mehr. Traurig is dat.“ Obwohl es traurig ist, lächelt sie. Meine Unsicherheit ist verflogen. Wir reden über diese seltsame Vogelkrankheit, der tatsächlich die Meisen zum Opfer fallen. Sie scheint die Theorie zu haben, dass das Rotkehlchen dann eher aus Solidarität wegbleibt. Scheint eine Bergmannswitwe zu sein. Da kennt man dat noch: Solidarität. Wir spekulieren zu dritt. Dass vielleicht auch das Insektensterben …
Ihr Blick wandert kurz ins Nichts. Dann fällt ihr ein: „Aber Schmetterlinge gibtet hier noch. Und ich sach Ihnen. Sooo schöne.“ Bei „Sooo“ schwingt sich ihre Stimme kurz in die Luft, als würde sie einem dieser flatternden Kunstwerke folgen.
Und sie erzählt weiter, dass sie auch den drei Pferden immer Leckerchen bringe, die da auf‘fe Weide stehen. Die Vögel und die Pferde, – die würden dat schon kennen. Wär ja auch immer so ungefähr die gleiche Zeit, wenn sie ihre Runde mache. Die kämen dann schon immer an.
„Und wissen `se wat?! Kürzlich kam dann auch so’n Rabe. Der hüppte dazu. Und wollte auch wat haben. Hab ich ihm auch Leckerchen gegeben. Und wissen `se, ich red dann ja auch mit denen. Und wenn die Zeit um ist, dann sach ich auch Tschüss. Und kürzlich hab ich dann die Pferde Tschüsse gesagt. ‚Tschüss, Flora‘, sachich, ‚tschüss Amanda, tschüss Tine. Und als ich dann so weggehe, kommt auf eima der Rabe angehüppt. Und steht da so vor mir, als wollter, dat ich ihm auch tschüss sage. ‚So‘ sachich, ‚du willz, dat ich dir auch tschüss sage. Ja, dann sach ma, wie heißt du denn`. Und da sachter ‚krakra‘. Und da sach ich: ‚Na, dann tschüss, KraKra.‘“ Dabei neigt sie sich leicht vor und schaut auf den Boden vor ihr. Als würde KraKra jetzt gerade da stehen. Unvermittelt richtet sie sich wieder auf und schaut uns beiden ganz begeistert ins Gesicht. „Ist dat nich schön, wat man inne Natur so erleben kann?!“
Sie wünscht uns noch einen schönen Tag und schlurft davon. Wir schauen ihr ein Weilchen versonnen hinterher. Und lassen uns ein wenig fluten von kitschiger Ruhrgebietsromantik.
Viele von den Vögeln sind weg. Vielleicht jetzt auch die Schmierfinken.
Hier floss Läppkes Mühlenbach, bevor er renaturiert wurde.