Tag 33
Wir drehen keinen Film
Kann der Zufall, dieser Tausendsassa, so ungeheuer klug Regie führen?
Heute gehen wir ins Kino. Wir schauen einen Film. Es ist ein Film, der eigentlich im März in die Kinos hätte kommen sollen, was dann aber nicht ging, aus Gründen, die ich jetzt nicht mehr so richtig präsent habe.
Diesen Film sehen wir auf einem Online-Portal namens „kinoflimmern.com“ (Ja, dies ist Werbung.) Wir haben dafür sogar so eine Art Eintritt bezahlt. Der kommt diversen Programmkinos zugute.
Nun, – dieser Film erzählt diese fiktive Handlung: Ein nicht mehr so ganz junger Mann, ein Schauspieler an einem kleinen Off-Theater, bucht eine Kamerafrau. Diese soll eine Zeitlang sein Leben filmen. Er ist ein Mond, der sich für eine Sonne hält und um sich selber kreist. Oft ist er traurig, weil alle anderen das nicht so sehen. Dass er eine Sonne ist. Er möchte verstehen, warum. Oder vielleicht auch nur effektvoll so tun, als ob.
Etwas weniger poetisch: Die Kamerafrau begleitet ihn überall hin. Zu seiner Probe, zu seinem besten Freund, zu einer (jetzt platonischen) alten Liebe usw. Der junge Mann schaut sich zwischendurch immer wieder mal Ausschnitte aus den Aufnahmen an.
Ich schaue zu, wie er lebt. Nein, ich schaue, was die Kamerafrau gefilmt hat, wie er sich gibt, wenn er weiß, dass sie filmt, was er möchte, das sie als Eindruck vermittelt, wie er lebt. Und das alles ausgedacht als Handlung. Das hat mächtig „Knoten-im-Kopf-Potential“. Und mächtig „Echte“-Gefühle-Potential.
Ich taumle von beschämtem Kichern, weil irgendetwas sehr Absurdes in einem Dialog z.B. sehr stark an eigene Absurditäten erinnert. Oder stöhne gequält, wenn er sich besonders bescheuert verhält. Oder schweige betreten, wenn er mir leid tut. Oder atme schwer, wenn mir zum xten Mal wieder klar wird: Nein, es ist nicht das Leben dieses Mannes. Es ist eine Filmhandlung.
Wie ist das möglich, dass ein Film, der lange vor Corona entstanden ist, der schon auf Festivals lief und jetzt – gezwungenermaßen! – Kinopremiere im #stayathome-Kino hat, so genau und treffend über das erzählt, was wir in dieser Zeit geradezu inflationär oft auf Youtube und Vimeo und Instagram und Skype und sonstwo erleben: Dass Menschen Bilder aus ihrem Leben zeigen. Dass dieses „dies ist mein Privatleben“-Genre eine Gattung geworden ist mit eigenen Style-Konventionen. Dass wir glauben, wir sähen Menschen in ihrem Privatleben und in Wahrheit Filme von fiktivem Privatleben sehen. Und wir können denken, das sei echt. Und sie sagen immer: Wir haben keinen Film gedreht.
Wie das möglich ist? Der kluge, mitfühlende Zufall! Er wollte gerne diesem wunderbaren Film die perfekte Darbietungszeit schenken. Glaube ich.
Übrigens heißt der Film: „Wir drehen keinen Film“ (und ja, dies ist Werbung).